Im Jahre 1871 gewann Deutschland zum letzten Mal einen Krieg gegen Frankreich. Dieser Sieg hatte zur Folge, dass das Deutsche Kaiserreich gegründet wurde.
Deutschland, das bis dahin aus vielen Kleinstaaten bestanden hatte, erlebte nun als geeintes Land einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung, an dem besonders die Reichshauptstadt teilnahm. Leider war mit diesem keine tiefgehende religiöse Bewegung verbunden. Mag sie zu Anfang des Krieges vorhanden gewesen sein, so war sie sehr bald zum Stillstand gekommen. Das Land war vollkommen im Diesseits angekommen, die Lebensanschauungen der Gebildeten und „Aufgeklärten“ gingen auf das Volk über.
Die Philosophien von Hegel und Feuerbach und die Ideen von Karl Marx und Ferdinand Lassalle führten bei vielen Gebildeten wie im Volk zum Verlust jeglichen inneren Halts und Glaubens. Die Kirche wurde allseits abgelehnt, und sie hätte damals auch im besten Falle das Vertrauen nicht zurückerwerben können. Die wenigen Kirchengemeinden Berlins außerhalb der inneren Stadt waren nämlich inzwischen zu unübersehbaren Gebilden herangewachsen. Der Pfarrer ging in Amtshandlungen der Taufen, Trauungen und Begräbnisse unter. Der Konfirmandenunterricht in ungeheuer starken Gruppen nahm Zeit und Kraft der bereits überanstrengten Pastoren völlig hin. Die kleinen Kirchen und Kapellen der inneren Stadt mit dem alten Dom konnten nur einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung aufnehmen, so dass ein Generalsuperintendent schrieb: „Die Plätze sämtlicher Kirchen Berlins reichten nicht einmal für die weiblichen Dienstboten aus, wenn sie auf einmal zur Kirche hätten gehen wollen."
Kein Pastor konnte die in großen Massen vom Land in die Stadt zugereisten Arbeiter und Arbeiterinnen seelsorgerlich betreuen. In den überfüllten Kirchen fanden sie keinen Platz, und kamen sie zur Predigt, fanden sie wohl oft genug nicht das, was ihre Seele angesprochen hätte.
Was geschah, diese Kirchen-, Seelen- und Sündennot zu überwinden? Tausende waren auf dem Schlachtfeld des Krieges gestorben, die fast nie unter Gottes Wort gekommen waren, die nur dem Namen nach Christen waren, in Wirklichkeit aber als Heiden gelebt hatten. Diese Entwicklung ging nun weiter. Die Kirche tat, was sie in solchem Fall zu tun pflegt: Sie berief eine Versammlung nach Berlin und ließ die Frage, die allerdings die entscheidende Frage war, beantworten: „Was haben wir zu tun, damit unserm Volke ein geistliches Erbe aus den großen Jahren 1870/71 verbleibe?"
Schonungslos wurde der tatsächliche Tiefstand kirchlichen Lebens festgestellt, aber die Verhandlungen über das, was geschehen sollte, blieben ergebnislos. Neue Aufgaben und Ziele wurden nicht aufgezeigt und nicht aufgenommen. Es wurde auch die Frage gestellt, ob die Volkskirche noch eine Zukunft habe, ob sie nicht vom Staat frei werden müsse.
Unermüdlich hatte Johann Heinrich Wichern schon vor 1848 die steigende Not in den Großstädten scharf beleuchtet und in einer Audienz dem König Friedrich Wilhelm IV. den Plan zur Gründung der Berliner Stadtmission vorgetragen. Doch die Revolution hatte die Verwirklichung dieser Gedanken verhinderte. Er empfahl, übergemeindliche Vereine zu gründen, die den Pastoren zur Seite stehen sollten, weil es darauf ankam, das Wort Gottes unter die Menschenmassen zu bringen. 18 sogenannte „Parochialvereine“ wurden auch begründet, die aber nach und nach wieder eingingen. Erst 1858 trat man auf Veranlassung des inzwischen nach Berlin berufenen Wichern den Plan wieder näher und gründete das Johannisstift in Plötzensee-Berlin, um Stadtmissionare für Berlin auszubilden. Sie sollten sich der Armen annehmen und den Familien der Gefangenen und den aus dem Gefängnis Entlassenen nachgehen. Aber auch dieser Versuch wollte nicht so richtig gelingen.
Seit der Einführung der Standesämter in Preußen am 1. Oktober 1874 und ab 6. Februar 1875 im ganzen Deutschen Reich war es möglich geworden, ohne den „Segen“ der Kirche zu heiraten, was einer weiteren „Entkirchlichung“ Vorschub gegeben hatte. Allerdings hatte Kaiser Wilhelm I., der diesem Gesetz zugestimmt hatte, andererseits auch die kirchlichen Bewegungen die bereit waren, sich in besonderer Weise den Menschen zu widmen, die den Bezug zu Kirche und Glauben verloren hatten, mit großen Gaben unterstützt.
In Privathäusern kamen bereits seit 1860 in Berlin junge Edelleute zusammen, um sich durch Gebet und Gottes Wort innerlich zu erquicken. Weil sie dabei Tee tranken, verlachte das Volk sie unter dem Spottnamen „nasse Engel", und weil sie öfters in der Dessauer Straße zusammenkamen, nannte man ihr Haus „Engelsburg". Der Träger dieser Bewegung war Andreas Graf Bernsdorff, der in England zum persönlichen Glauben gekommen war, ihm schlossen sich an Baron Jasper von Oertzen und der allgemein bekannte General von Viebahn, später Graf Pückler, von Rothkirch, Phildius und Baron von Ungern-Sternberg an.
Es war ein Kreis von Menschen, die später in die Geschichte der christlichen Bewegungen Berlins und Deutschlands eingehen sollten.
Andreas Graf von Bernstorff, der in einem der wenigen Jünglingvereine in der Oranienstraße arbeitete, rief zum Entsetzen der liberalen Pastoren 1864 die erste Sonntagsschule ins Leben. Graf Bernstorff wurde 1883 der stellvertretende Vorsitzende des von ihm mitbegründeten „Christlichen Vereins Junger Männer“ (CVJM) und 1893 Reichstagsabgeordneter.
Eberhard von Rothkirch wurde Gründer und 1. Vorsitzender des 1883 in Berlin gegründeten CVJM in Deutschland, Christian Phildius Vorsitzender des Vereins der Christlichen Kaufleute“.
Baron Jasper von Oertzen, der Sohn des gleichnamigen mecklenburgischen Ministerpräsidenten, leitete später die von Wichern begründete Hamburger Stadtmission und wurde Mitbegründer und Leiter der dortigen Gemeinschaftsbewegung.
General Georg von Viebahn, der an allen deutschen Einigungskriegen teilgenommen hatte, wurde noch in seiner aktiven Militärzeit Herausgeber eines wöchentlichen Evangeliumsblattes für Soldaten, welches bald auch außerhalb des Heeres als Traktat verbreitet und sogar in verschiedene Sprachen übersetzt wurde. Später wurde von Viebahn zu einem der Gründer der Allianz-Bibelschule in Berlin, dem heutigen „Forum Wiedenest“ der Evangelisch-Freikirchlichen Brüdergemeinden in Bergneustadt.
Baron Arthur von Ungern-Sternberg, der als 15jähriger bereits 1840 gläubig geworden war, wurde der Begründer der Deutschen Evangelischen Buch- und Traktatgesellschaft.
Eduard Reichsgraf von Pückler, erst 1878 zum aktiven christlichen Leben gekommen, sollte bereits wenig später in Berlin geistliches Leben nach Art der Gemeinschaftsbewegung zu erwecken.
In dieser Zeit tauchte auch zum ersten Mal der Begriff „Evangelisation“ auf; die ersten Versuche „evangelisierender Thätigkeiten“ wurden im Zusammenhang mit der Arbeit der Stadtmission als bedeutend gewertet. Man wollte neue Wege beschreiten, da man die Kirche aus vielen Gründen hierzu nicht mehr in der Lage sah, und schuf einen Rahmen für eine „freie Vereinigung gläubiger Kreise“, die das Ziel hatte, in der Kirche ein eigenes „Evangelistenamt“ einzurichten. Als Qualifikation für diese Tätigkeit wurden folgende Punkte genannt:
- Schriftverständnis
- Lebenserfahrung
- Lebendiger Glaube
- Die Gabe, fesselnd und verständlich zu sprechen
|