Wilhelm von Humboldt
FRIEDRICH WILHELM CHRISTIAN CARL FERDINAND VON HUMBOLDT
* 22. Juni 1767 in Potsdam , † 8. April 1835 in Tegel
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22.06.1767 - Wilhelm von Humboldt wird in Potsdam geboren. In der väterlichen Linie ist er Sprössling pommerscher Vorfahren aus dem Bürgertum. Ihr Großvater Hans Paul Humboldt wurde Kapitän im preußischen Militär und wegen seiner Verdienste 1738 auf eigenes Ersuchen in den Adelsstand erhoben. Dessen Sohn Alexander Georg von Humboldt (* 1720) wurde nach seinem Ausscheiden aus dem Heeresdienst auf Geheiß Friedrichs des Großen Kammerherr bei der Gemahlin des Thronfolgers bis zum Scheitern dieser Ehe 1769. Bereits 1766 hatte Alexander Georg die vermögende Witwe hugenottischer Herkunft Elisabeth von Holwede, geb. Colomb, geheiratet und war durch sie in den Besitz von Schloss Tegel gelangt. An der Ausbildung der Söhne Wilhelm und Alexander auf dem Tegeler Gut – winters in der Berliner Stadtwohnung, da das Schloss nur schwer beheizbar ist – wird nicht gespart.
1777 - Als Hauslehrer engagieren die Eltern der Humboldt-Brüder unter anderen renommierte Persönlichkeiten wie Joachim Heinrich Campe und Johann Jacob Engel, ab 1777 für mehr als zehn Jahre Gottlob Johann Christian Kunth, der den Erziehungsplan koordiniert und den Unterricht der verschiedenen Fachlehrer beaufsichtigt. Kunth erwirbt sich auch hinsichtlich der Gutsverwaltung eine Vertrauensstellung bei den Humboldts.
1779 - Gottlob Johann Christian Kunth, der Hauslehrer der Humboldt-Brüder, wird nach dem Tod des Vaters von Wilhelm und Alexander zum unentbehrlichen Berater der erneut verwitweten Frau von Humboldt und später auch zum Vermögensverwalter seiner Schützlinge.
1780 - Schon als 13jähriger spricht Wilhelm von Humboldt Griechisch, Latein und Französisch und ist mit wichtigen Autoren der jeweiligen Literatur vertraut. Sein enormer Studienfleiß weckte nicht selten Besorgnis bei ihm Nahestehenden.
1785 - Die Humboldt-Brüder verkehren in Kreisen der Berliner Aufklärung. In Vorbereitung auf die Universitätsstudien nehmen die Brüder auf Vermittlung ihres Lehrers Kunth an Privatvorlesungen beispielsweise in Nationalökonomie und Statistik, Naturrecht und Philosophie teil. Im Zusammenhang damit gelangen sie auch in das Haus des vielseitig interessierten Arztes Marcus Herz, der als Anhänger Immanuel Kants philosophische und physikalische Vorlesungen hielt, sowie in den Salon seiner Frau Henriette Herz, zu der Wilhelm zeitweise eine schwärmerische Zuneigung fass. Dort lernen die Brüder unter anderem Moses Mendelssohn kennen, studieren gemeinsam die Schriften Kants und diskutieren über die Frage: Was ist Aufklärung?
1786 - In den folgenden Jahren erhalten die Humboldt-Brüder Privatunterricht von Christian Wilhelm von Dohm über den Welthandel. Wilhelm lernt von Ernst Ferdinand Klein die Grundzüge des Naturrechts und bei Johann Jakob Engel Begriffs- und Urteilslogik. Auch in die Schriften von John Locke und David Hume wird er von Engel eingeführt. Als Mitglied in ihrem „Bund der Freunde“, einem von vielen existierenden Tugendbünden, zu dem sowohl eine Satzung als auch eine Geheimschrift gehört, kommt Wilhelm späterhin in Kontakt mit Caroline von Dacheröden, die dem Bund als auswärtiges Mitglied gleichfalls angehört.
Frühjahr 1788 - Das Ziel der anspruchsvollen Ausbildung ihrer Söhne liegt für die Mutter der Humboldt-Brüder darin, sie für einflussreiche Staatsämter zu qualifizieren. Wilhelm ist für ein Studium der Rechtswissenschaften vorgesehen, Alexander für Staatswirtschaftslehre, die als Kameralia firmieren. Noch unter der Obhut ihres Lehrers Kunth beginnen die Brüder ihr jeweiliges Studium an der Brandenburgischen Universität Frankfurt, die Wilhelm aber nach einem Semester verlässt, um sich nun an der Georg-August-Universität Göttingen zu immatrikulieren.
1788 - In Göttingen löst sich der Student Wilhelm von Humboldt aus den von der Mutter vorgegebenen Bahnen und folgt von nun an eigenen Impulsen, Interessen und Einsichten. Im Studium widmet er sich weniger der Jurisprudenz und mehr der Philosophie, der Geschichte und den alten Sprachen. Dabei besucht er auch Veranstaltungen von Kapazitäten wie dem Experimentalphysiker Lichtenberg und dem klassischen Philologen Heyne. Zudem befasste er sich unter anderem mit Naturgeschichte und setzte sich intensiv mit Kants Schriften auseinander. In diesem Jahr lernt er auch Caroline von Dacheröden persönlich kennen.
Ende 1788 - Von seinem Studienort Göttingen aus unternimmt Wilhelm von Humboldt eine Reise über Kassel, Marburg und Gießen in die Rhein/Main-Gegend, bei der er unter anderem einige Tage in Mainz mit dem Weltumsegler Georg Forster und seiner Frau Therese verbringt und auf Gut Pempelfort mit dem streitbaren sensualistischen Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi in eine anhaltende Verbindung tritt.
03.08.1789 - Wilhelm von Humboldt reist mit seinem vormaligen Lehrer Campe in das revolutionäre Paris.
04.08.1789 - Wilhelm von Humboldt erlebt die Abschaffung des Feudalsystems in Frankreich per Dekret der Verfassunggebenden Nationalversammlung. Er besucht sowohl eine Sitzung der neuen Volksvertretung als auch die kürzlich vom Volk gestürmte Bastille, wobei er sich anders als der von der Revolutionsbegeisterung mitgerissene Campe eher als nüchterner Beobachter gibt. Jenseits des Revolutionsgeschehens interessiert er sich einerseits für Kunst und Architektur, andererseits auch für Spitäler, Gefängnisse und für die Lage der Pariser Waisenkinder, die er in einem Findelhaus aufsucht. In seinen Notizen heißt es: Alle Laster entspringen beinah aus dem Mißverhältnis der Armut gegen den Reichtum. In einem Lande, worin durchaus ein allgemeiner Wohlstand herrschte, würde es wenig oder gar keine Verbrechen geben. Darum ist kein Teil der Staatsverwaltung so wichtig als der, welcher für die physischen Bedürfnisse der Untertanen sorgt.
Ende August 1789 - Wilhelm von Humboldt und sein früherer Lehrer Campe verlassen Paris und setzen ihre Reise noch bis November mit einem längeren Aufenthalt in der Schweiz fort. Als Folge seiner Reiseerfahrungen kann ein Bedürfnis nach regelmäßigem Wechsel seiner äußeren Umwelt angenommen werden, nach Wohnortwechseln über Ländergrenzen hinweg. Humboldt selbst äußert später: Der Grundsatz, dass man in vielen Lagen aller Art gewesen sein müsse, ist so fest in mir, dass mir jede, in der ich noch nicht war, schon darum angenehm ist.
Weihnachten 1789 - Wilhelm von Humboldt hält sich mit seiner Verlobten Caroline von Dacheröden in Weimar auf und hat dort erste Begegnungen mit Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe.
Anfang 1790 - Wilhelm von Humboldt tritt nach Beendigung des viersemestrigen Studiums in den Staatsdienst und erhält eine Anstellung im Justizdepartement, wo er für die Richterlaufbahn ausgebildet werden soll, zugleich aber die Zusatzqualifikation für den diplomatischen Dienst erwirbt.
Mai 1791 - Wilhelm von Humboldt sucht mit Hinweis auf Familienumstände um seine Entlassung nach, sei es, dass ihm die Ausübung des Richteramts unter dem Eindruck gegenaufklärerischer Tendenzen im preußischen Staatswesen zuwider ist, sei es, dass seine anderweitig entwickelten Neigungen den Ausschlag geben oder dass er die Anstellung nur betrieben hat, um vor seiner Mutter und vor seinem Schwiegervater in spe, dem Kammerpräsidenten von Dacheröden, zu bestehen.
29.06.1791 - Wilhelm von Humboldt heiratet in Erfurt Caroline von Dacheröden (* 23.02.1766 in Minden), die Tochter des preußischen Kammerpräsidenten Karl Friedrich von Dacheröden und seiner Frau Ernestine Friderike Gräfin von Hopfgarten. Mit ihrem überlieferten Briefwechsel, für den ein von beiden Eheleuten gepflegter Ton wechselseitiger Idealisierung bezeichnend ist, schaffen Caroline und Wilhelm von Humboldt ein Orientierungsmuster des Geschlechterverhältnisses für das deutsche Bürgertum im 19. und noch im 20. Jahrhundert. Dabei werden beide eine „offene Ehe“ führen. Humboldts Konzept der optimalen individuellen Entfaltung schließt den Anspruch ein, die eigene Sexualität mit wechselnden Partnerinnen auch aus dem käuflichen Milieu ausleben zu können. Bekannt wird später sein Verhältnis mit Johanna Motherby, Gattin des Arztes William Motherby, in Königsberg. Carolines mehrjähriger Hausfreund in Jena und auf Reisen wird Wilhelm von Burgsdorff (* 1772). Während der nächsten zweieinhalb Jahre wird das junge Paar auf den Dacherödenschen Gütern in Thüringen leben, wo Humboldt nun mit Caroline seine Studien der altgriechischen Sprache, Kultur, Kunst und Philosophie fortsetzt und in regem Gedankenaustausch mit dem Hallenser Altphilologen Friedrich August Wolf vertieft. Die Beschäftigung mit der Antike dient ihm zu dem Zweck „der philosophischen Kenntnis des Menschen überhaupt“. Den griechischen Geist begreift er „als Ideal desselben, was wir selbst sein und hervorbringen möchten“.
1793 - Wilhelm von Humboldt veröffentlicht die Schrift Über das Studium des Altertums und des Griechischen insbesondere, die seinen betonten Philhellenismus zeigt, gegen dessen Alleingültigkeitsanspruch selbst Schiller Vorbehalte hat.
Februar 1794 - Mit seiner für die geistesgeschichtliche Epoche des Neuhumanismus charakteristischen Hochschätzung des antiken Griechentums und mit seiner weitreichenden Kenntnis zeigt sich Wilhelm von Humboldt bereits als Juniorpartner der deutschen Klassik“, als er mit der jungen Familie an Schillers Wirkungsstätte nach Jena umzieht. Die Rolle, die er fortan zunächst Schiller, dann auch Goethe gegenüber spielt, wird die des scharfen Analytikers, konstruktiven Kritikers und versierten Ratgebers, der unter anderem auf Schillers Balladen und sein Wallenstein-Drama ebenso kunstverständig eingeht wie auf Goethes Herrmann und Dorothea. Über Humboldts idealisierendes Bekenntnis zum antiken Griechenland und seinen nachfolgenden Einfluss auf das deutsche Bildungswesen urteilt später der Historiker Peter Berglar: Obwohl Humboldt sich an Tiefe nicht mit Goethe, an Dynamik nicht mit Schiller und an Schöpferkraft mit beiden nicht von Ferne messen konnte, hat doch gerade er vielleicht den stärksten, sicher aber den längsten Einfluß auf die deutsche Entwicklung genommen.
19.11.1796 - Marie-Elisabeth von Humboldt, gebürtige Colomb, verwitwete von Holwede (* 8. Dezember 1741 in Berlin), Mutter von Wilhelm und Alexander Humboldt, stirbt in Tegel.
03.12.1796 - Die Humboldt-Brüder erscheinen beide nicht zur Beerdigung ihrer Mutter in Falkenberg bei Berlin. Hingegen ist dies für ihren Sohn aus erster Ehe, Rittmeister Ferdinand von Holwede, anzunehmen, denn er war es auch, der in der „Vossischen Zeitung“ vom 22. November 1796 eine Traueranzeige für seine Mutter aufgab. Vor allem für Alexander wird der Tod der Mutter ein entscheidendes Ereignis, denn die gewonnene finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht ihm die Verwirklichung seiner lange gehegten Reise- und Forschungspläne.
Juni 1797 - In Dresden kommt es zur Teilung der Erbschaft der im November des Vorjahres verstorbenen Marie-Elisabeth von Humboldt unter der Aufsicht des treuen Vertrauten der Mutter, des Freundes und früheren Erziehers der Brüder, Christian Kunth. Gut und Schloss Tegel fallen im Wesentlichen an Wilhelm, das Gut Falkenberg erbt der Halbbruder Ferdinand von Holwede. Alexander bezieht Hypothekenzahlungen aus beiden Gütern sowie eine Resthypothek aus dem bereits früher veräußerten Ringenwalde. Mit dem geerbten Bargeld von etwa 38.000 Talern kann er die Amerikareise und später das mehr als 30 Bände umfassende Reisewerk zum großen Teil finanzieren. In ihrem Testament hatte Marie-Elisabeth von Humboldt geschrieben: „[…] da ich das Gut Falkenberg bei meiner Familie auf längere Zeit zu erhalten wünsche, so vermache ich dasselbe meinem ältesten Sohn Ferdinand von Holwede […]“.
Zweite Hälfte 1797 - Wilhelm von Humboldt sucht neue geeignete Felder für die Entfaltung und Vervollkommnung seiner Anlagen. Da durch Napoléons Italien-Feldzug das bevorzugte Reisewunschziel aus Sicherheitsgründen vorerst entfallen wird, zieht er mit seiner Familie für vier Jahre in das noch immer von der Revolution bewegte, aber für auswärtige Besucher wieder aufgeschlossene Paris. Dort macht von Humboldt eine Reihe intensiver und anregender Bekanntschaften, wie beispielsweise die des Abbé Sieyès, von Mme. de Staël und des Revolutionsmalers David. Wieder geht es um die Erweiterung des eigenen geistigen Horizonts im Gespräch mit führenden Köpfen der Zeit, „immer geleitet von dem Bestreben, in ihre jeweilige Welt einzudringen und von der Begegnung mit ihr zu profitieren.“
1799 - Von Paris aus unternimmt Wilhelm von Humboldt mit seiner Gemahlin Caroline, drei Kindern und diversen Bedienten eine Reise nach Spanien.
Erste Hälfte 1801 - Von Paris aus unternimmt Wilhelm von Humboldt ohne seine Familie eine zweite Reise nach Spanien, die sich langfristig vor allem hinsichtlich der sprachwissenschaftlichen Studien des Baskischen für ihn als ertragreich erweist.
Sommer 1801 - Wilhelm von Humboldt kehrt mit seiner Frau und den Kindern für etwa ein Jahr nach Tegel zurück.
Frühjahr 1802 - Wilhelm von Humboldt wird als preußischer Gesandter zum Heiligen Stuhl nach Rom entsandt. Nun zahlt sich aus, dass er während seiner Anstellung im Justizbereich zugleich eine Qualifikation für den diplomatischen Dienst und den Titel eines Legationsrats erworben hat. Als Mann von Welt aus dem Adelsstand empfiehlt er sich für diesen Posten, der möglichen Konkurrenten als eher unattraktiv gilt, nachdem der Kirchenstaat unter französischer Vorherrschaft zusammengeschrumpft und der Papst von Napoléons Gnaden abhängig geworden ist. Mit der Aufgabe der konsularischen Vertretung preußischer Untertanen in Rom ist von Humboldt zeitlich nicht gefordert, so dass er genug Gelegenheit hat, sein repräsentatives Haus, den Palazzo Tomati nahe der Spanischen Treppe, gemeinsam mit Caroline zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt Roms zu machen. Hier verkehren neben Kurienangehörigen als Gäste beispielsweise Lucien Bonaparte, noch als Kronprinz der spätere Ludwig I. von Baiern, die Bildhauer Bertel Thorvaldsen und Christian Daniel Rauch sowie der junge Karl Friedrich Schinkel, Carl Ludwig Fernow, Friedrich Tieck und August Wilhelm Schlegel in Begleitung der Frau von Staël.
Sommer 1805 - Die seit drei Jahren in Rom lebende Familie Wilhelm von Humboldt wird von Alexander, dem Bruder Wilhelms, besucht, der gerade von seiner Amerika-Expedition zurückkehrte und schon jetzt als „zweiter Kolumbus“ gefeiert wird. Alexander von Humboldt wird für mehr als drei Monate in Rom bleiben, bevor er sich in Paris an die umfassende wissenschaftliche Auswertung des gesammelten Forschungsmaterials machen wird. Dies darf als Zeichen einer intensiven Kommunikation und herzlichen Verbundenheit der mitunter in starken Kontrast zueinander gesetzten Brüder genommen werden. Ihr Verhältnis und komplementäres Wirken wird gelegentlich mit dem Bild von den „preußischen Dioskuren“ wiedergegeben.
Oktober 1806 - Die Liquidierung des Heiligen Römischen Reiches, den Zusammenbruch Preußens nach der Niederlage bei Jena und Auerstedt sowie die französische Besetzung Berlins verfolgt Humboldt von seinem Posten in Rom.
November 1806 - Der preußische Gesandte am Heiligen Stuhl in Rom Wilhelm von Humboldt schreibt an den preußischen Staatsminister Karl August Fürst von Hardenberg, der auch die Geschäfte des Außenministers ausübt: Ich war niemals ehrgeizig oder interessiert und zufrieden mit dem Posten in dem Lande, das ich bewohne und das ich liebe und habe weder gesucht noch gewünscht, in eine andere Lage zu kommen, aber jetzt ist es mir peinlich, hier müßig zu sein und nichts für das bedrängte Vaterland tun zu können. Anderweitige Verwendung hat man jedoch in Berlin offenbar nicht für ihn, und so bleibt er vorerst in Rom.
Oktober 1808 - Ein Urlaubsgesuch zur Regelung von Vermögensangelegenheiten und zur Schadensaufnahme im geplünderten Schloss Tegel bietet Wilhelm von Humboldt die Gelegenheit zur Rückkehr nach Deutschland. Dort angekommen erfährt er bald, dass er im Zuge der auf den Weg gebrachten Preußischen Reformen die Leitung der „Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts“ übernehmen soll; der Reformenprotagonist Freiherr vom Stein setzt sich für von Humboldt auf diesem Posten ein. Der preußische Militärstaat, wie er von Friedrich Wilhelm I. geschaffen und von Friedrich II. auf Expansionskurs gesetzt wurde, hat vorerst abgewirtschaftet und befindet sich Napoléon gegenüber in einer demütigenden Abhängigkeit. Um aus dieser Lage heraus wieder zu Kräften zu kommen, bedarf es im Sinne vom Steins und seiner Mitstreiter umfassender Reformen mit dem Ziel, dem mit der Französischen Revolution erwachten Freiheitsstreben der Bürger Raum zu geben, ihre Eigenverantwortung zu fördern und auf diese Weise dem Staat und der Nation neue Ressourcen zu erschließen.
15.12.1808 - Wilhelm von Humboldt wird konkret mit der Frage konfrontiert, die Leitung der „Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts“ in Preußen zu übernehmen, doch zögert er, das Amt anzunehmen, zumal nachdem der Freiherr vom Stein auf Druck Napoléons als Staatsminister am 25. November entlassen wurde. Nun zeichnet sich ab, dass von Humboldt nicht als Minister und damit nur dem König verantwortlich, sondern als Sektionschef unter Innenminister Friedrich zu Dohna-Schlobitten tätig werden soll. Möglicherweise fürchtet von Humboldt, dass ihm angesichts der Bedeutung der Aufgabe nicht genügend freie Hand bliebe zur Neuordnung des Unterrichtswesens.
Januar 1809 - Das Berufungsschreiben auf den neuen Posten als Leiter der „Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts“ in Preußen lehnt Wilhelm von Humboldt nach zwei Wochen Bedenkzeit ab und bittet den preußischen König, seinen diplomatischen Dienst in Rom fortsetzen zu dürfen. Das aber wird ihm verwehrt.
20.02.1809 - Wilhelm von Humboldt wird zum Geheimen Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Inneren ernannt. Nachdem er sich schließlich in die Umstände gefügt hat, setzt von Humboldt in seiner Amtsführung in Königsberg eine erstaunliche Dynamik frei und reformiert, unterstützt von seinen Mitarbeitern Nicolovius, Süvern und Uhden, sowohl temporeich wie umsichtig Lehrpläne, Lehrerausbildung und Prüfungswesen an Elementar- und Volksschulen, Gymnasien und im universitären Bereich, obwohl er das öffentliche Schulwesen aus eigener Erfahrung weder als Schüler noch als Lehrer kennenlernte.
Spätherbst 1809 - Wilhelm von Humboldt zielt als Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht auf ein dreistufiges Unterrichtssystem mit Elementar-, Schul- und Universitätsunterricht. Nach jeder Unterrichtsstufe soll es die Möglichkeit geben, in den Beruf einzutreten. Im „Königsberger Schulplan“ sowie im „Litauischen Schulplan“ werden diese Leitlinien des Konzepts ausgeführt. Sie betonen das Erfordernis einer allgemeinen Menschenbildung im Unterschied zu Ritterakademien, Kadettenschulen und manchen Realschulen, die bisher vielfach lediglich berufsbildend ausgerichtet waren. Für von Humboldt aber bedarf das gesamte Unterrichtswesen eines einheitlichen Fundaments für alle speziellen späteren Berufs- und Erwerbstätigkeiten der Bürger. Seine Hochschätzung des Altgriechischen als Allgemeingut menschlicher Bildung findet unter anderem Eingang in den Litauischen Schulplan: Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten. Für die dreijährige Elementarschule sieht von Humboldt in seinem Bericht an den König als einen Hauptgrundsatz vor, dass das Kind immer das volle und deutliche Bewusstsein haben muss, was es in jedem Augenblick hört, sagt und thut, und warum so und nicht anders gehandelt wird, und führt dazu aus: Indem es so gezwungen und gewöhnt wird, von jeder, auch der kleinsten Sache Rechenschaft zu geben, lernt es zu gleicher Zeit klar denken, bestimmt wollen und vernehmlich sprechen. Im Königsberger Schulplan werden die Kernziele aller drei gemeinten Bildungsstadien behandelt: Der Zweck des Schulunterrichts ist die Uebung der Fähigkeiten, und die Erwerbung der Kenntnisse, ohne welche wissenschaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unmöglich ist. Beide sollen durch ihn vorbereitet; der junge Mensch soll in Stand gesetzt werden, den Stoff, an welchen sich alles eigne Schaffen immer anschließen muss, theils schon jetzt wirklich zu sammeln, theils künftig nach Gefallen sammeln zu können, und die intellectuell-mechanischen Kräfte auszubilden. Er ist also auf doppelte Weise einmal mit dem Lernen selbst, dann mit dem Lernen des Lernens beschäftigt. […] Der Schüler ist reif, wenn er so viel bei anderen gelernt hat, dass er nun für sich selbst zu lernen im Stande ist. Sein Sprachunterricht zum Beispiel ist auf der Schule geschlossen, wenn er dahin gekommen ist, nun mit eigner Anstrengung und mit dem Gebrauch der vorhandenen Hülfsmittel jeden Schriftsteller, insoweit er wirklich verständlich ist, mit Sicherheit zu verstehen, und sich in jede gegebene Sprache, nach seiner allgemeinen Kenntnis vom Sprachbau überhaupt, leicht und schnell hinein zu studiren. Wenn also der Elementarunterricht den Lehrer erst möglich macht, so wird er durch den Schulunterricht entbehrlich. Darum ist auch der Universitätslehrer nicht mehr Lehrer, der Studirende nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst und der Professor leitet seine Forschung und unterstützt ihn darin. Von Humboldt unterstützt die Gründung einer Berliner Universität. Für den Standort Berlin spricht aus von Humboldts Sicht unter anderem das Vorhandensein weiterer Einrichtungen wie der Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Künste, das Bestehen einer vollständigen medizinischen Fakultät sowie bedeutender Sammlungen und der Akademie der Künste – in Verbindung mit der neuen Universität beste Voraussetzungen für einen vielseitig ausgreifenden wissenschaftlichen Unterricht. Niemals wieder hatte ein deutscher Unterrichtsminister, heißt es bei Berglar, eine stolzere Berufungsliste vorzuweisen. Zu den glanzvollsten Lehrstuhlbesetzungen gehören in den Anfängen Friedrich Schleiermacher, Friedrich Carl von Savigny, Johann Gottlieb Fichte und Barthold Georg Niebuhr. Kein leichtes Geschäft allerdings für den Organisator, wie der seiner Frau Caroline gegenüber brieflich klagte: Es handle sich bei den Fachgelehrten um die unbändigste und am schwersten zu befriedigende Menschenklasse – mit ihren sich ewig durchkreuzenden Interessen, ihrer Eifersucht, ihrem Neid, ihrer Lust zu regieren, ihren einseitigen Ansichten, wo jeder meint, daß nur sein Fach Unterstützung und Beförderung verdiene. Humboldts Universitätsidee sieht für den Hochschulbetrieb und das Verhältnis zwischen Dozenten und ihren Studenten die Einheit von Forschung und Lehre vor. Beide sollen auch von staatlichen Forderungen und Auflagen einengender Art freigehalten werden. Wilhelm von Humboldt geht davon aus, dass die Universitäten in verantwortlicher Selbststeuerung auch die staatlichen Zwecke erfüllen, nur sozusagen von einer höheren Warte aus und mit Mitteln, die der Staat aus eigenem Vermögen nicht hervorbringen kann. Nicht allein für den universitären Bereich, sondern für das gesamte Bildungswesen stellt sich von Humboldt für die Zukunft eine von den monarchischen Staatskassen unabhängige Finanzierung vor, die aus Einkünften entsprechend zugewiesener staatlicher Domänengüter gespeist werden sollte.
Dezember 1809 - Mit Blick auf wirtschaftliche Zwänge und gesellschaftliche Realitäten wird kritisiert, dass das humboldtsche Bildungsideal zu eng gebunden ist an seine aristokratisch privilegierte Existenz. Von Humboldt selbst zielt aber auf eine allgemeine Bildungsreform; Belege dafür – wie auch Anregungen für die Schaffung einer Bürgergesellschaft, in der lebenslanges Lernen möglich werden könnte – enthält sein Bericht an den König: Es giebt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Giebt ihm der Schulunterricht, was hiezu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschiehet, von einem zum andern überzugehen.
1810 - Zu den nachwirkenden Maßnahmen Wilhelm von Humboldts und seiner Mitarbeiter in der „Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts“ zählt die Einführung des Lehramtsexamens (examen pro facultate docendi), mit dem der Stand des Gymnasiallehrers geschaffen wird, der Kenntnisse nachweisen muss in den alten Sprachen, in Geschichte und in Mathematik. Für das Jahr 1812 ist eine Vereinheitlichung und Verpflichtung der Abiturprüfung und für das Jahr 1816 der „Plan der Unterrichtsverfassung“ eines 10-jährigen Gymnasialkurses (Curriculum) vorgesehen.
29.04.1810 - Den Vorsatz, seine Stellung im Staatsrat aufwerten zu lassen, um unabhängig und gleichberechtigt unter Kabinettskollegen wirken zu können, hat Wilhelm von Humboldt zu keiner Zeit aufgegeben und sich Hoffnungen gemacht, den König von den Vorstellungen des Freiherrn vom Stein überzeugen zu können. Als er erkennt, dass er damit nicht durchdringen wird, reicht er nach gut einjähriger Tätigkeit im Amt sein Rücktrittsgesuch ein. Es dauert zweieinhalb Monate, in denen er sowohl für die Leitung des Innen- wie des Außenministeriums im Gespräch sein wird, bis seine Entlassung bewilligt wird. Sein Amtsnachfolger wird Friedrich von Schuckmann. Da er die Übernahme der Sektionsleitung für Kultus bereits mit der Bitte verknüpft hat, später in den diplomatischen Dienst zurückkehren zu können, soll die mit der Entlassung zugleich verbundene Ernennung zum „außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister in Wien“ seine Enttäuschung wohl abmildern. Wilhelm von Humboldt wird später von Vielen für sein jeweiliges Ausscheiden aus den Staatsämtern, die er innegehabt hat, angegriffen werden. Eigenliebe, Genusssucht, Bequemlichkeit und Selbstüberschätzung gehören zu den angenommenen Motiven seiner Rückzüge. Dagegen stehen der enorme Einsatz und der unermüdliche Arbeitseifer, den er, wenn es darauf ankommt, auch im Staatsdienst an den Tag legt. Bedingungslos gilt seine Bereitschaft zum Dienst am Gemeinwesen aber nicht. Wenn die politischen Umstände ihn übermäßig zu fesseln und seinem Selbstbild zu entfremden drohen, wenn er für ein den eigenen Überzeugungen entsprechendes Wirken keine Perspektive mehr sieht, dann enden für ihn jegliche Verpflichtungen.
November 1829 - Der am 22. November in Berlin verstorbene frühere Lehrer der Humboldt-Brüder findet seinem eigenen Wunsch folgend in der Nähe der Grabstätte der Familie von Humboldt im Park von Schloss Tegel seine letzte Ruhestätte.
10.04.2000 - Zu Ehren der Mutter der Humboldt-Brüder Marie-Elisabeth von Humboldt wird in Berlin-Falkenberg die Straße 2 in Marie-Elisabeth-von-Humboldt-Straße umbenannt. Falkenberg ist der nördlichste Ortsteil des Bezirkes Lichtenberg von Berlin.
(Königreich Preußen) | ||||||||
Vorgänger | Amt | Nachfolger | ||||||
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1819 |
1819-1834 |