Vom „Christlichen Vereinshaus“ ging mit dem Eröffnungstage, dem 8. Januar 1883, ein Strom des Segens, ja, ohne daß man zuviel sagt, über ganz Deutschland aus. Mit praktischem Sinn, mit glühendem Herzen und persönlicher Opferbereitschaft arbeitete der Gerichtsassessor, Graf Pückler, zum Besten der entkirchlichten Arheitermassen.
Der „Fürst Blücher“, dieses übelbeleumdete Tanzlokal Müller- und Fennstraßen-Ecke am Weddingplatz, wurde in der Weihnachtswoche gekauft. Der junge Graf holte sich von seinem Vater in Schedlau die Genehmigung für diese neue Arbeit. Das heilige: „Gott will es!“ hatte den jungen Grafen innerlich gepackt und ließ ihn nicht mehr los trotz aller Enttäuschungen, die besonders in der ersten Zeit mit dieser Arbeit verbunden waren.
Die Arbeit kostete viel Geld. Die ersten 4000 Mark kamen schon in den ersten Wochen ein, aber es reichte ja bei weitem nicht. Er brauchte deshalb einen Freundeskreis, der diese Arbeit mit Gebeten und Gaben trug. Bis er sich in den gebildeten und adligen Kreisen mit seiner Art, die so anders als jede bisherige fromme, kirchliche Art war, durchsetzte und Verständnis fand, ging es durch manche Kämpfe. Unter Flagge „Mission“ segelte man, um überhaupt verstanden zu werden, und selbst nach drei Jahren noch, als die Segensspuren ganz offenbar waren, wurden Bedenken, ja Widerspruch laut, zumal man es wagte, öffentlich von einer „Christlichen Gemeinschaft“ zu reden. Was hätte damals in Berlin geschehen können, wenn nicht ein Pückler, sondern zehn solcher Grafen und Hunderte von christlichen Sendboten und Zeugen erfahrener Gnade durch Berlin gezogen wären, und wenn die Menschen ihre Aufgabe in Geldopfern für diese Arbeit gesehen hätten, wie es in London dem Grafen Shaftesbury möglich war, 400 Stadtmissionare in die Arbeit zu stellen, weil die gläubigen, reichen Engländer die Wichtigkeit solcher Mission verstanden und deshalb auch zu Opfern bereit waren! Herr von Schlümbach mußte oft den Grafen durch Briefe in diesen schweren Anfangszeiten ermutigen.
Vor allem wollte der Graf seinen heimatlosen Arbeitern eine wirkliche Heimat wiedergeben, deshalb gliederte er seine Gemeinschaften so, daß der Arbeiter mit seiner ganzen Familie kommen konnte. Die Familie fand in der christlichen Gemeinschaft, was sie brauchte und suchte: das Kind die Sonntagsschule, die heranwachsende Jugend Abteilungen für junge Mädchen und junge Männer, die Frauen ihre Frauenabteilungen, die Männer ihre Männerstunden, und für alle gemeinsam waren die allwöchentlichen Evangelisationsversammlungen und zur Vertiefung des Glaubenslebens die Bibelstunden. In den Vereinshäusern ward Raum und Gelegenheit gegeben zu geselliger Unterhaltung und Erholung. Für die Jugend gab es Spiele, Gesang und Turnunterricht. Monatliche Gemeinschaftsabende sollten alle Glieder zusammenführen, patriotische Feste und Ausflüge im Sommer das Gemeinschaftsgefühl verstärken. Die Gemeinschaften hatten Bibliotheken und gute Zeitungen zur Verfügung.
Es ist interessant zu beobachten, wie Gott dem Grafen Pückler diese für die Arbeiterbevölkerung so segensreiche Arbeit gelingen ließ. Das Leben in der Gemeinschaft wurde so fein gestaltet, daß es vorbildlich für die Familie und sie wohl selbst umzugestalten imstande war. Jedes Jahresfest war der Höhepunkt des Gemeinschaftslebens, am Wedding wohl selten anders als mit einem Festgottesdienst in der Dankeskirche beginnend. Jede Abteilung - so nannte Graf Pückler den einzelnen Kreis -, die Männer und Frauen, dazu die Trinkerrettungsabteilung, feierten ihre Jahresfeste als Teeabend oder mit Kaffee und Kuchen, anders kann sich ein Berliner solche Festfeier gar nicht denken. Das gab aber und schuf Sinn für fröhliche, gemütstiefe, wahrhaft herzliche Gemeinschaft miteinander.
Jede Abteilung hat noch ihre verschiedenen Gruppen. Die Pflege wurde einem bewährten, älteren Mitgliede übertragen. So kommen die Mitglieder einander wirklich näher, und in brüderlicher Weise kann man Wohl und Wehe der Glieder besprechen und darüber beten.
Alle aus den verschiedenen Gruppen vereinigt nun die allwöchentlicbe Bibel- und Evangelisationsstunde. Kein Wunder, daß die Vereinsräurne bald zu klein werden, beträgt doch der Durchschnittsbesuch der Frauenversammlung am Wedding etwa 180, und versammeln sich zu Weihnachten doch allein 930 Kinder am Wedding unter dem Weihnachtsbaum.
Eine weitere Eigenart der St.-Michaels-Gemeinschaftsarbeit ist, daß man sich nicht scheut, mitten unter der kirchenfeindlichen und allem Vaterländischen abholden, marxistisch verhetzten Arbeiterbevölkerung vaterländische und kirchliche Gedenkfeiern abzuhalten. Anläßlich des Todes Kaiser Wilhelm I. und des Kaiser Friedrich III. im Jahre 1888 hat sich in den Sälen eine zahlreiche Trauergemeinde zu ernster Feier versammelt, auch noch anläßlich des Todes unserer Kaiserin im April 1921. Geburtstagsfeiern der Kaiser, Regierungsjubiläen, Jahrhundertfeiern, Reformationsfeste werden selten vergessen, sind beliebt und gesegnet wie Familienfeiern, weil Gottes reiches Evangelium im Mittelpunkt bleibt.
Demselben Zweck dienten die im Laufe der Jahre oft wiederholten Musikabende, die in Konzertsälen stattgefunden haben, vom Kgl. Musikdirektor geleitet, von Professoren der Musik unterstützt wurden, und bei denen Kirchenchöre mitwirkten. Aber nie fehlt dabei Gottes Wort. Es kostet hohes Eintrittsgeld, 3,- und 2,- Mark. Auch diese geselligen, musikalischen Abende sind immer der Gewinnung für das wahre Leben geweiht gewesen und werden manchen Menschen unter Gottes Einfluß gebracht haben, die ihm sonst leichtfertig oder mit Absicht aus dem Wege gegangen sind.
Ein wichtiger Zweig der St.-Michaels-Arbeit ist von vornherein die Blätterverbreitung gewesen, die im weitesten Maße von den Mitgliedern und dem Zentralkomitee betrieben wurde. So sind an die Sonntagslosen jeden Sonntag 40.O00 und mehr Schriften, auf den Friedhöfen Predigten verteilt, und durch die Huld Kaiser Wilhelm I. sind in allen Wachlokalen der Berliner Garnison Bibliotheken aufgestellt worden, damit die Soldaten in ihren Mußestunden gute Lektüre vorfinden sollten. Major von Czettritz hat oft im Freundeskreis über diese Arbeit berichtet. Die segensreiche Arbeit in den ersten Jahren ist die wöchentlich in 15.000 Exemplaren auf allen Bahnhöfen verbreitete Verteilung des „Wegweisers durch Berlin“ gewesen, die unser St.-Michaels-Mitglied Otto Schaumann organisatorisch geleitet hat. Jede Nummer hat einen Plan von Berlin und Hinweise auf unsere Herbergen und Kaffeestuben und Vereinsversammlungen enthalten, damit jeder Fremde rechte Unterkunft und rechten Anschluß fände. So berichten auch zwei Bauern, die im Jahre 1889 mit dem Wegweiser in den Händen eines Tages vom Lande zu uns kamen, von dem Segen dieser Einrichtung: Nachdem sie sich den Tag über hier aufgehalten, auch vor dem Schlafengehen der gemeinsamen Abendandacht beigewohnt hatten, ist der eine von ihnen dankend zum Hausvater gekommen
und hat erzählt, wie er sich so sehr wundere, daß es in Berlin noch solche schönen Häuser gäbe, wo man so gut aufgenommen würde. „Ich bin“, so erzählte er, „noch nie in Berlin gewesen, habe aber leider viel Schlechtes von dieser Stadt gehört. Die Erzählungen von den sogenannten Bauernfängern hatten mich recht beunruhigt, so daß ich, um diesen nicht in die Hände zu fallen, meinen Bruder mitgenommen habe.“ Sein Bruder, fügte er hinzu, sei Soldat gewesen und darum klüger als er. Hätte er aber gewußt, wie gut er hier aufgehoben sei, hätte er diese Vorsicht nicht nötig gehabt.
Es war wirklich eine Tat, als Graf Pückler im Osten sowie im Norden Herbergen zur Heimat mit 140 Betten, mit christlichen Hauseltern und mit Hausandachten gründete. Es lag eben ganz in der Linie des Grafen, den geringsten und bedürftigsten Menschen zu dienen, an die Straßen und Zäune zu gehen. Weil dieser Gedanke ihn leitete, hat Gott diese Arbeit auch gesegnet. So kam eines Abends spät bei schlechtem Wetter ein Tischlergeselle mit
der Frage zum Hausvater der Herberge am Wedding: „Kann ich hier ohne Geld Nachtquartier bekommen?“ Der Hausvater fragte ihn, ob er arbeiten wolle, er erwiderte: „Ich bin todmüde vom Arbeitsuchen und komme soeben noch von Spandau.“ Als ihm nun der Hausvater ein Abendbrot gab und auch ein freies Nachtquartier versprach, entrang sich seiner Brust ein „Gott sei Dankl“ Dann notierte er sich mit freudigcm Herzen die ihm vom Hausvater nachgewiesenen freien Stellen. Nach 14 Tagen kam er wieder zur Herberge und trat mit den Worten an ihn heran: "Hier, Hausvzıter, bringe ich mit bestem Dank den Betrag meiner Schuld, und einen Rock habe ich mir auch schon gekauft.“
Und praktisch, wie der Graf war, verband er mit den Herbergen auch einen Arbeitsnachweis, durch den die Hausväter manchem Arbeitslosen - leider begann damals in Deutschland eine Wirtschaftskrisis durch Vernachlässigung der Landwirtschaft, so daß die Zahl der Arbeitsuchenden oft um 30 Prozent größer war, als beim Arbeitsnachweis Stellen angeboten wurden - Stellung nachweisen konnten, wodurch in manche Familie wieder Frieden und Freude einzogen.
Auch sonst vergaß der treue Graf nicht, nach Jesu Sinn und Befehl an die Hecken und Zäune zu gehen: Er nahm sich der gestrandeten Mädchen an und bot oft mehr als 60 bis 80 solcher gefallenen Mädchen eine Zuflucht im Zufluchtsheim, um ihr Verhältnis mit Gott wieder in Ordnung zu bringen, sie auf den rechten Weg zu weisen und in geordnete, bürgerliche Verhältnisse zurückzuführen, sie vielleicht mit den Eltern wieder auszusöhnen. So ging man nachts auf die Straße und lud sie mit christlichen Blättern ins Zufluchtsheim ein. Das war Mitternachtsmission, noch ehe man den Namen kannte. Als man diese Arbeit in der Notzeit des Krieges aufgeben mußte, ist die in diesem Dienst zuletzt tätig gewesene Schwester Frieda Ripke in den Dienst der Berliner Stadtmission übergetreten.
Eine andere Einrichtung, die Graf Pückler in unsere St.-Michael-Arbeit organisch einbaute, wenn sie auch scheinbar an der Peripherie lag, aber doch für die Arbeiterbevölkerung überaus segensreich war, waren die „Kaffeestuben“. Wer aus dem Osten unseres Vaterlandes kommt, dem sind dort die „Destillationen“ in jeder Straße in Erinnerung, aus denen ein übler Schnapsgeruch auf die Straßen strömte, der die ermüdeten, stumpf gewordenen Arbeiter nicht abschreckte, sondern mit satanischer Macht hineinzog, so daß sie der Gewalt des Teufels ausgeliefert wurden. Das hatte ja den jungen Grafen so erschüttert. Seine brennende Heilandsliebe trieb ihn, gerade diesen Opfern des Alkohols zu helfen. Als Leiterinnen der beiden Kaffeestuben im Osten und am Wedding und später in der Beusselstraße 14 fanden sich liebe, gläubige Schwestern, die es verstanden, mit den Berliner Fabrikarbeitern fertig zu werden. Sie fühlten sich in den gemütlichen, im Winter warmen Räumen mit ihrem guten, christlichen Lesestoff wohl und kamen gern, so daß diese Arbeit, solange sie bestand, sogar einen finanziellen Gewinn für das St.-Michaels-Werk abwarf. Keine Gemeinschaftsarbeit ist je so umfassend gewesen und hat sich aller Stände und Berufsschichten angenommen wie die St.-Michaels-Arbeit. Die Straßenbahnfahrer und -schaffner wurden gesammelt, die Droschkenkutscher wurden besonders gepflegt und betreut - und man erreichte sie alle - von Tante Osy (Frl. Osiander), der Pflegetochter des bekannten Dichters Albert Knapp. Später organisierte diese Arbeit in noch größerem Stil Mrs. Palmer-Davis, und zehn Jahre lang stand diese Arbeit in großem Segen.
An die besser gestellten Kreise dachte der Graf ebenfalls, und als die Möglichkeit dazu gegeben war, gliederte er dem Werke St. Michaels Hospize an. Als die Vereinsräume Schönwalder Straße gebaut wurden, fügte er hier ein Hospiz ein.
Als der CVJM, Wilhelmstraße 34, Vereinsräume zu bauen sich genötigt sah, ermöglichte er ihm den Bau, indem er sich erbot, das Vorderhaus als Hospiz St. Michael zu bauen und zu mieten. So besteht eine innere und äußerlich gegebene Verbundenheit mit St. Michael und dem Vereinshaus des Christlichen Vereins junger Männer, die ihre tiefste Ursache in der Tatsache haben, daß beide Werke von demselben Quell der Erweckung getrunken haben, und daß ein Arbeitskreis in St. Michael und dem CVJM dieselben Männer zusammenschloß. Darum mochte auch unser arg bedrängtes St.-Michaels-Werk den Pachtvertrag, der noch bis Ende des Jahres 1935 läuft, nicht aufheben, trotzdem die Notverordnung vom Dezember 1931 uns hierzu den restlichen Grund in die Hand gab, und trotzdem unsere finanziellen Schwierigkeiten bei dem katastrophalen wirtschaftlichen Niedergang bis ins ungemessene steigen
können, weil dann, abgesehen von der Tatsache, daß beide Werke heute noch in Br. Kaufmann Kogelschatz denselben Schatzmeister haben, das letzte Band zwischen beiden Werken zerschnitten sein würde.
Das Hospiz St. Michael sollte ein Pensionat für Familien werden, die sich zeitweise oder dauernd in Berlin aufhalten, und ihnen so viel wie möglich ein christliches Familienleben ersetzen. Auch Reisende, die kürzere Zeit in Berlin blieben und dem teuren, kalten, weil unpersönlichen Hotelleben ein Haus mit möglichst wohltuendem, christlichem Einschlag vorzogen, sollten Jesu Freundlichkeit zu schmecken bekommen.
Konnten wir bisher feststellen, daß der Graf sich nicht schämte, der Mühseligen und Beladenen Bruder zu heißen und zu werden, indem er vor der Barmherzigkeit durch die Tat nicht zurückschreckte, so wäre er ja nicht der echte Jünger Jesu gewesen, wenn er nicht auch den Nikodemus- und Zachäusseelen nachgegangen wäre. Das ist ja das Große jener ersten Zeit der Berliner Gerneinschaftsbewegung, daß das Evangelium auch von den in der Welt Großen und Edlen freudig und willig angenommen Wurde. Der Freundeskreis, der Herren- und Damenkreis, den Graf Pückler um und für das St.-Michaels-Werk sammelte, sind Beweis, daß nicht bloß die Menge des Volkes, sondern auch einzelne edle und adlige Menschen von dem Herrn ]esus erwählt sind. Und der Reichsgraf, Gerichtsassessor und Husarenoffizier, fühlte sich im Kreis der Fabrikarbeiter ebenso wohl wie auf dem Parkett der vornehmen Gesellschaft, stieg die Treppen zu den armen Witwen ebenso gern hinauf, wie er zu den Schlössern und Villen der Reichen fuhr, und betete für die Armen wie Reichen mit derselben Treue und Inbrunst; und arbeitete an dem Seelenheil der Gebildeten und Ungebildeten mit der gleichen Hingabe.
Im Nähverein, der anfangs unter der Leitung von Frau von Oertzen stand und heute unter der Leitung der Schwester des Grafen, Frau Oberst von der Lühe, steht, und in den wöchentlichen Freitags-Bibelstunden vereinigte er diesen Freundeskreis unter sein Wort und ist manchen von ihnen der Anstoß zu einer ewigen Bewegung geworden und hat manchen bewegen können, tätig zu werden in den verschiedenen Abteilungen und in den verschiedenen Ortsgemeinschaften.
Dieser Freundeskreis brachte auch jährlich Tausende von Mark für das St.-Michaels-Werk auf und trug das Werk auf betenden Händen, wovon die täglichen Gebetsstunden der ersten Jahre, wie schon erwähnt, ein beredtes Zeugnis sind. Leider ist der Freundeskreis seit dem Tode des Grafen sehr vernachlässigt und infolgedessen sehr zusammengeschmolzen, die Gebefreudigkeit hat infolgedessen sehr gelitten, die Verarmung dieser Kreise tat ein übriges. Doch sind wir dabei, die Reste dieses Freundeskreises wieder zu interessieren und zu sammeln.
Und wenn es wahr ist, daß ein jedes Werk nur durch dieselben Kräfte erhalten bleiben kann, durch die es einst ins Leben gerufen wurde, so können wir das bei der Gemeinschaftsbewegung im allgemeinen und bei unserem St.-Michaels-Werk im besonderen als Wahrheit feststellen. Die Evangelisation, die Volkstümliche, gewissenanpackende Verkündigung des Evangeliums von Christus, dem Retter der verlorenen Menschheit, für die ER ans Kreuz ging, um sie mit seinem Blut von aller Sünde rein zu machen und Gott, den Vater, mit dem gottfernen und gottfeindlichen Menschen zu versöhnen, hat unser St.-Michaels-Werk ins Leben gerufen. So blieb es. Graf Pückler und neben ihm der schlichte Laie, ein Fabrikarbeiter, ein Sekretär, ein Offizier, ein Baron, aber ebenso auch der landeskirchliche Pfarrer und der Prediger standen in den Evangelisationsversammlungen vor dem aufhorchenden Volk, um ihm Buße zu predigen. Die neuen Evangelisationslieder, von denen der Graf 519 Lieder in seinem St.-Michaels-Liederbuch zusammenstellte, zogen durch ihre frische, fröhliche Art die Leute aus dem Volk ebenso an wie auch, damals wenigstens, die vornehmen Kreise.
Um an die Massen heranzukommen und sie unters Wort Gottes zu bringen, tat der Graf etwas, was damals unerhört war, heute fast bei den riesigen politischen Demonstrationen und Sprechchören überlebt oder überwunden erscheint: er ging ins Freie, auf die Höfe, auf die unbebauten Plätze in der Stadt, in den Parks und verkündete den vielen, die nie mit Gottes Wort in Beziehung kamen, die suchende Liebe des Heilandes, der niemand verlorengehen lassen möchte. Dankbar, mit Tränen im Auge und mit Geldgaben begrüßten die einen diesen für Deutschland und Berlin ganz neuen Weg, andere antworteten mit Hohn und Spott und offener Gegnerschaft.
Die Evangelisationen in den Vereinsräumen blieben der Mittelpunkt. Um sie segensreich zu gestalten und immer neue und fremde Kreise hineinzuziehen, sammelten sich in verschiedenen Wohnungen die Mitglieder von St. Michael zum Gebet. Andererseits ging man auf die Höfe jener großen Häuserblocks, in denen oft 40 bis 50 Familien wohnen, man sang ihnen christliche Lieder vor, die mit kurzen, schlichten Zeugnissen wechselten, und lud zu den Abend-Versammlungen und Festen ein. Dazu kamen die großen Feste: das Himmelfahrtsfest in der Jungfernheide, wohin man in der ersten Zeit schon am frühen Morgen hinauspilgerte, später nachmittags in großem Festzuge mit Kindern und der St.-Michaels-Jugend als Spitze unter dem Banner, das heute noch am Himmelfahrtsausflug aufgestellt wird, damit es jedem Fremden kund würde: Jesus ist der einzige Retter. Oft genug ist der Ausflug verregnet und mußte deshalb verlegt werden, einmal wurde er in eine Dampferpartie umgewandelt. Jahre hindurch hat sich die Heilandsgemeinschaft von Fräulein von Hennigs beteiligt. Seitdem die Polizei infolge politischer Unruhen Demonstrationszüge wiederholt verboten hat, sind diese Straßenumzüge unterblieben. Man
kommt jetzt in der Jungfernheide selbst zusammen, je nach Zeit und Umständen beteiligen sich alle 14 Michaelsgemeinschaften. Man hat daraus ein fröhliches Familienfest gemacht. Die Kinder kommen auf ihre Rechnung, die Jugend spielt und singt. Chorlieder, allgemeine Gesänge, Posaunenklänge locken viele Fremde an, so daß oft ein Kreis von mehr als tausend den fröhlichen Zeugnissen zuhört an einer Stätte, wo sie oft gerade glaubten, ganz unter sich und dem frommen Glauben entronnen zu sein und in der Natur ihren Gott anbeten zu können.
Um die Pfingstzeit haben im Garten des Hausministeriums, später im Charlottenhof im Tiergarten in der Nähe der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche, die St.-Michaels-Gemeinschaft und der CVJM, Wilhelmstraße 34, gemeinsam jedes Jahr ein Gartenmissionsfest gefeiert, auf dem Kaffee und Kuchen zum Besten der Heidenmission verkauft wurde und Zeugnisse von Vertretern beider Werke wie auch der Heidenmission diesen Festen ihr besonderes Gepräge gaben. Leider sind diese Feste eingeschlafen, und St. Michael kommt in den Verdacht, als ob es für die Heidenmission kein Herz und kein Geld habe.
Was auch ganz aufgehört hat, aber schon seit langer Zeit - das letzte Mal hat diese Veranstaltung im Kriege 1915 stattgefunden - ist der sogenannte Landproduktenverkauf Anfang Dezember jeden Jahres, der oft mehr als 3000 Mark für unser Werk einbrachte. Die Beziehungen, die Graf Pückler und Graf Bernstorff zum Adel des Landes besaßen, brachten es mit sich, daß die vielen Jahre hindurch diese beiden Verkaufstage uns eine große Hilfe waren.
Was aber geblieben ist und ganz im Rahmen unserer St.-Michaels-Arbeit liegt, das sind die drei großen Versammlungen, die für unser Werk und für alle Abteilungen, wie auch für die fernstehenden Arbeitermassen, eine Quelle unendlichen Segens bis auf den heutigen Tag bedeutet haben: das große St.-Michaels-Dankfest am Sonntag um den St.-Michaels-Tag, den 29. September, herum im Saal der Wedding-Gemeinschaft, Schönwalder Straße 21, auf dem Berichte aus allen Abteilungen mit kurzen Ansprarhen abwechseln, und das den großen, tausend Menschen, ja, wenn hinreichend Stühle wären, auch 1500 Menschen fassenden Saal bis auf den letzten Platz füllt. Diesem Fest schließt sich seit Jahren, gewissermaßen für den Ausfall des Landesproduktenverkaufs, die Dankopferwoche an, die auch Erträge von mehr als 3000 Mark gebracht hat. Dann die großen Bußtags-Evangelisationen in demselben Saal, die ernst und schlicht große Massen unter das Wort bringen. Noch immer findet auch am Karfreitag viele Jahre hindurch - seit der Evangelisation durch Prediger Rubanowitsch - in denselben Germania-Sälen, Chausseestraße 111, die große Karfreitagsfeier, nachmittags 3 Uhr, statt, auf der nach alter Überlieferung Br. Manitz unter dem Wechselgesang der vereinigten St.-Michaels-Chöre die „Sieben Worte am Kreuz“ verliest und meist drei Redner, darunter oft ein zufällig in unseren Gemeinschaften arbeitender fremder Bruder, der Schar, die meist aus ganz fernen Kreisen durch Zettelverbreitung und Säulenanschlag zusammenkommt, das Wort vom Kreuz dem haltlosen, hoffnungsvollen Volk vorhalten. Daneben gehen dann große Abendmahlsfeiern an den Festtagen, die Passionsfeiern, wie sie im März des letzten Jahres nach dem Deklamatorium des neuen Präses: „Der Heiland, eine Feier unter dem Kreuz“ stattgefunden hat, ferner Silvesterfeiern und andere mehr, alles mit dem Ziel, dem Volk, das in Sünden und Gottesferne dahinlebt, zu dienen und es zu dem lebendigen Wasserquell zu führen, nachdem die löcherigen Brunnen es haben verschmachten lassen.
|