Kapitel 6 - Das St.-Michaels-Werk im äußeren Wachstum

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GESCHICHTE DER CHRISTLICHEN GEMEINSCHAFTEN ST. MICHAEL


Autor: Max Diedrich (1958)


(dieser Text ist als ein Geschichtsdokument anzusehen, manche Worte und Ausdrucksweisen sind heute nicht mehr gebräuchlich)





Kapitel 6 - Das St.-Michaels-Werk im äußeren Wachstum
Wir gehen zurück auf die erste Versammlungsstätte am Wedding, Müllerstraße 6. Das Tanzlokal „Fürst Blücher“ war in ein „Christliches Vereinshaus“ umgetauft. Das Podium, von dem bis dahin die Tanzweisen in die lachende und scherzende Menge hinein erklangen, wurde zur Kanzel für Gott geweiht. Die Säle füllten sich mit andächtigen Scharen, zu denen mancher gehörte, der früher hier mitgetobt, gezecht und getanzt hat. Pastor von Schlümbach hatte am Wedding seine Evangelisationstätigkeit eingestellt. Graf Pückler mit seinen wenigen Getreuen stand vor neuen Aufgaben, in die diese Laien, die ihrem irdischen Beruf nachgingen, sich allmählich hineinarbeiten und hineinwachsen mußten. Noch blieben die Türen für das Evangelium aufgetan, wenn es auch leider aus Gleichgültigkeit und Mißverständnis an Händen fehlte, die am Netz ziehen sollten. Berlin versäumte seine große Stunde, seine Gnadenzeit. Doch taten die wenigen Arbeiter, was sie konnten. Es ist ein Wunder vor unseren Augen, was dennoch Gott in seiner Gnade damals in Berlin wirken konnte.


Gott hat sich an dem jungen Grafen offenbart, ihn zu einem vorbildlichen Gemeinschaftsleiter sich herangezogen und zu einer selbstlosen, opferwilligen persönlichen Hingabe für den Herrn und sein Werk zubereitet. Graf Pückler setzte sich mit seiner ganzen Person, mit seiner Zeit, mit seinem Vermögen für sein Michaelswerk ein. Er bezahlte die Bauten, die Mieten, die Gehälter bis zu seinem Tode. Er legte anfangs 3000 bis 4000 Mark jährlich zu, später bis zu 35.O00 Mark. Anfangs war es notwendig, später brachte er Wohl in der Sorge, es könnten andere Hände sein Werk verderben, darum müsse er es fest in der Hand behalten, diese großen, finanziellen Opfer weiter. Es wäre für die spätere und gegenwärtige Entwicklung des Werkes sicherlich heilsamer gewesen, auch die Mitglieder wären zur selben Opferwilligkeit, wie der Graf sie übte, erzogen worden.

Sein Beruf als Gerichtsassessor nahm ihn als gewissenhaften preußischen Staatsbeamten völlig hin, auch seine Gesundheit schien diesen doppelten Ansprüchen nicht gewachsen zu sein. Die Reichsgottesarbeit, die Aufgaben in St. Michael wuchsen ihm über den Kopf. Beidem meinte er nicht auf die Dauer gerecht werden zu können.

So erzählte Graf Pückler von einer Audienz bei seinem Minister, der ihn plötzlich zu seinem Erstaunen hatte rufen lassen und ihn ermahnte, ja seinem Staatsdienst treu zu bleiben und sich nicht in „Mystizismus“ zu verlieren. "Wir sind übereingekommen“, so schreibt der Graf, „daß ich im Anfang des nächsten Jahres noch einmal zu ihm kommen soll, um ihm meinen weiteren Lebensentschluß mitzuteilen.“ Schon am 12. November 1886 nahm der Gerichtsassessor seinen Abschied. Später war es ihm zweifelhaft geworden, ob er nach Gottes Willen gehandelt habe.

Eine andere innere Not, unter der Graf Pückler in der Anfangszeit litt, fand ein anderes Ende: Er verkündete freudig Gottes Wort in Versammlungen und Bibelstunden. Da mag es ihm oft zum Bewußtsein gekommen sein, daß die Auslegung gewisse Vorkenntnisse verlange. Auch suchte er nach einem Recht, als Prediger des Evangeliums dazustehen. Gewiß war ihm klar, Gott habe ihn in diese Arbeit berufen, aber als Deutscher konnte er damals gar nicht anders denken, als daß nur der berufen sei zur Verkündigung des Gotteswortes, der Theologie studiert habe.

So bewegte er die Frage, ob er nicht noch Theologie studieren solle. Hier hat ihn Generalsuperintendent Braun, der 1884 als Nachfolger Büchsels nach Berlin gekommen war, als treuer Seelsorger und Freund beraten. In einer Nacht hat ihn Gott viermal geweckt, damit er für den Grafen beten solle. Aus diesem seelsorgerlichen Verhältnis wurde ein rechtes, inniges Freundschaftsverhältnis zwischen diese beiden Junggesellen, das 1888 zum brüderlichen „Du“ führte und den Grafen Pückler schließlich von seiner Absicht, Theologie zu studieren, abbrachte. Er begnügte sich damit, mit begnadigten Menschen in Verbindung zu treten und ihre Schriften zu lesen. Fleißig studierte er die Bibel.

Da Graf Pückler seinen Weg ganz deutlich auf einer einseitigeren, engeren Basis liegen sah als den Weg, den Stöcker ging, ganz fern von der Politik, dafür hinein ins Zentrum des Evangeliums, so wollte er nicht äußere Hemmungen für sein St.-Michaels-Werk und trat deshalb 1886 aus dem Stadtmissionskomitee aus. Man bedauerte dort seinen Austritt, blieb aber in Liebe und Fürbitte verbunden. Auch äußere Beziehungen haben die Gründung der Gemeinschaft St. Michael Wesentlich erleichtert. Der Wedding gehörte damals kirchlich noch zur riesigen Nazarethgemeinde. Die Dankeskirche - zum Dank für gnädige Bewahrung bei den ruchlosen Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. - befand sich noch im Bau. An der kleinen Nazarethkirche diente ein treuer Zeuge als Pfarrer seit 1874, nämlich der schon genannte Pfarrer Diestelkamp. Hier bestanden kirchliche Vereine. Auch war 1875 ein Jünglingsverein in der Nazarethgemeinde gegründet. Gott sorgte dafür, daß in dieser Erweckungszeit aus Rheinland-Westfalen Hilfe kam. Zunächst hatte die Leitung des Jünglings-Vereins der Hilfsprediger Ufer aus Barmen erhalten. Sein Bruder, Kaufmann Karl Ufer, diente 1883 gerade sein Jahr beim 2. Garde-Infanterie-Regiment in der Friedrichstraße ab, ebenfalls der junge Kandidat der Theologie Coerper, heute Leiter von Liebenzell. Sie halfen tüchtig in der ersten Zeit mit, zumal als der Hilfsprediger Dünne aus Westfalen eine Pfarrstelle übernahm.

Auch Baron Moritz von Ungern-Sternberg - schon als 18jähriger zum lebendigen Glauben gekommen, später Gründer der Deutschen Evang. Buch- und Traktatgesellschaft - beteiligte sich am kirchlichen Leben seiner Nazarethgerneinde, gründete den kirchlichen Männerverein 1872 und trat dann mit Graf Pückler während der Evangelisation Schlümbachs in Verbindung, wurde später Vizepräses von St. Michael und leitete die Gebetsstunden in der Behrenstraße.

Diese beiden Kreise bildeten den Stamm der Gemeinschaft Wedding. Auch den Kindergottesdienst (Sonntagsschule) hatte im Christlichen Vereinshaus Pastor Ufer übernommen, und dort mit zehn bis zwölf Helfern und Helferinnen gearbeitet. Für diese Arbeit und für die Vorbereitungsstunde zu diesem Dienst fand sich nach dem Weggang Ufers niemand als Graf Pückler selbst.

Am 8. Januar des Jahres 1883 konnte also das Lokal "Fürst Blücher“ als christliche Versammlungsstätte eingeweiht werden. Die erste Versammlung fand am 12. Januar statt. Eine Herberge zur Heimat wurde angefügt. Der erste Sammelpunkt war geschaffen für alle, die sich nach christlicher Gemeinschaft sehnten. Die verschiedensten Arbeiten für Männer, Frauen, Jungfrauen, Jünglinge und Kinder sammelten nun in der kurzen Zeit von drei Wochen 700 Menschen, die zu den Versammlungen kamen. Natürlich traten viele auch wieder aus, aber immer neue traten an ihre Stelle. Das Haus hatte selbst 113.500 Mark gekostet, der Anbau sollte noch etwa 30.000 Mark kosten. Eine Sammlungsbitte vom Januar 1883 um weitere Gaben trug die Unterschriften der drei Herren: Andreas Graf von Bernstorff, Kgl. Kammerherr und Geh. Regierungsrat, Friedrich-Wilhelm-Straße 5, Pastor Diestelkamp von der Nazarethkirche und Eduard Graf von Pückler, Gerichtsassessor, Müllerstraße 162.

Ende Januar fand hier um 6 Uhr an einem Freitag, wie ein Zeitungsausschnitt besagt, ein „Teemeeting“, also ein Teeabend statt, zu dem zahlreiche Gäste, auch Offiziere, erschienen waren. Von Damen der Gesellschaft bedient, brodelten auf langen, weißgedeckten Tafeln die Teemaschinen. Graf Bernstorff eröffnete die Feier, Prediger von Schlümbach betonte das Motiv der Liebe zu solchem Liebeswerk: Pastor Diestelkamp habe im vorigen Jahr in Wμppertal mit blutendem Herzen ihm von der in Berlin herrschenden Sittenverderbnis erzählt, wie schwer es ihm sei, ein Hirt der Herde Gottes zu sein. Da sei in ihm, dem Pastor Schlümbach, der Entschluß gereift, nach Berlin zu kommen. Die Zeit sei nahe, wo das Panier des Herrn wieder von vielen aufgenommen werde, die es weggeworfen hätten. Dann betrat Stöcker die Tribüne und wählte des alten Feldmarschalls Blücher Wort: „Was ist's, das ihr rühmt? Es war meine Verwegenheit, Gneisenaus Besonnenheit und des großen Gottes Barmherzigkeit.“ Es war eine Verwegenheit vom Pfarrer der Nazarethkirche, einen solchen Tanzsaal zum christlichen Vereinshaus zu machen, und ebenso eine Verwegenheit von Schlümbach. Dann rühmte er die Besonnenheit, mit der man die Kosten überschlage. Es tue der nordischen Vorstadtgemeinde sehr wohl, wenn solch ein warmer Liebeshauch - es kamen 800 Mark Kollekte ein - aus dem Westen komme. Er nannte die religiöse Bewegung hier im Norden ein Zeichen der Barmherzigkeit Gottes. Nach Graf Bernstorff schilderte zum Schluß Graf Pückler die innere und äußere Notlage des Arbeiterstandes, erzählte von den im Hause getroffenen Einrichtungen. Ein billiger Mittagstisch zu 30 Pf. sei eingerichtet, eine Volksbibliothek werde demnächst eröffnet werden. - Ähnliche Feiern fanden noch oft statt als englisches Teemeeting am 13. November und als deutscher Teeabend am 20. November, auf denen Konsistorialrat Reichart, Superintendent Dryander und Hofprediger D. Frommel sprachen. Der letztere erinnerte an die große geistliche Not der Vorstädte: Während im Zentrum 11 Kirchen mit 38 Pastoren für 80.000 Seelen zur Verfügung ständen, wuchsen in den Vororten Riesengemeinden heran, für die kleine Kirchen und höchstens in jeder Gemeinde drei Pfarrer vorhanden wären. Graf Bernstorff erinnerte daran, wie das ganze Haus in den Dienst der Arbeit für das Christentum gestellt werden sollte: Herberge zur Heimat und ein Hospiz, während der „Dienst an Arbeitslosen“, der von Konstantin Liebig gegründet war und sein Heim in der Oranienstraße 106 bereits verloren hatte, vom Grafen hier in dieses Vereinshaus aufgenommen wurde und so den Obdachlosen und Vagabunden eine Heimstätte bereitete. Hier ist diese Schrippenkirche geblieben, bis sie in ihr eigenes Heim in die Ackerstraße 52 ziehen konnte, allerdings hat der Graf noch öfter seine schützende Hand über diese Arbeit halten müssen. Zum Dank hat nun wiederum die Schrippenkirche ihre Räume einer unserer St. Michaelis-Gemeinschaften überlassen.

Am 17. Februar fand die feierliche Einweihung der Erweiterung des Vereinshauses und die Eröffnung der drei Herbergen zur Heimat, neben der in der Oranienstraße und Auguststraße, statt. Zunächst ein Festgottesdienst in der Dankeskirche, die die Teilnehmer nicht fassen konnte. An ihm nahmen teil der Kultusminister von Goßler nebst Gemahlin, der Präsident des Oberkirchenrats, D. Hermes, der Konsistorialpräsident Hegel und mehrere Mitglieder des Oberkirchenrats. Der Generalsuperintendent von Berlin, Probst Dr. Brückner, hielt die Festpredigt. Zur Nachfeier im Saal fanden sich 400 Gäste ein, darunter viele Damen und Herren der hohen Aristokratie, z. B. der Konsistorialpräsident Hegel, Graf Behr-Bandelin, Landrat von Gerlach, Kammerherr vom Ende und viele andere aus allen Ständen und Klassen. An Gaben waren 24.000 Mark zum Bau beigesteuert worden. 56 Obdachlose konnten unterkommen, außerdem waren noch neun Hospizräume vorhanden.

Schon im Frühjahr 1885 sproßte im Osten ein neuer Zweig von St. Michael auf. Stadtmissionar Gilweit leitete im Osten am Grünen Weg 104 einen stattlichen Jünglingsverein. Dieser ging nach der Koppenstraße 9 - spätere Zählung 5 - am Schlesischen Bahnhof, wo zu Anfang des Jahres 1885 eine neue Arbeit hatte begonnen werden können, indem der Fabrikbesitzer Geheimrat Pintsch, der später in der Tiergartenstraße wohnte, dem Freundeskreis beitrat und seine Villa in der Koppenstraße käuflich zur Verfügung stellte. Hinten auf dem Hof wurde ein Saal angebaut, und für eine Herberge zur Heimat wurden Räume ausgebaut. Die Leitung erhielt Inspektor Wegener aus dem Evang. Vereinshaus Oranienstraße, bis der Graf sie dem Inspektor Papke aus Elbing - ehemals Agent für Nähmaschinen, dann in Chrischona ausgebildet - übertrug. In allen Abteilungen ging es sehr gut voran, besonders in der Jungfrauenabteilung unter der Leitung der Gräfin E. Waldersee, so daß im Juni 1888 und Februar 1889 259 neue Mitglieder eingeführt werden konnten. Als im Herbst ein Teeabend für die Konfirmierten veranstaltet wurde, stieg der Besuch der Jugendabteilung bis auf 100 Mitglieder. Die Sonntagsschule aber war bald so überfüllt, daß neue Kinder nicht mehr aufgenommen werden konnten. An einem Ausflug im Jahre 1889 nach Treptow beteiligten sich 500 Kinder. Hier zunächst im Osten wurde eine Probemitgliedschaft eingeführt. Am 25. Juli konnten bereits wie der 143 neue Mitglieder eingeführt werden. Als am 1. September 1889 in der Andreaskirche das heilige Abendmahl gefeiert wurde, nahmen 300 Mitglieder daran teil. Am 16. Dezember starb der sehr rührige stellvertretende Vorsitzende, Postsekretär Karl Lemke. Die Bibelstunden in den Frauenabteilungen, die etwa 100 Mitglieder in 11 Gruppen hatten, wurden bis zum Jahre 1893 sonntäglich von Divisionspfarrer Rogge gehalten, nach seinem Weggange vierzehntäglich von Zimmermeister Nikolai.

Im Jahre 1883 war am Prenzlauer Berg ein Christlicher Verein Junger Männer als Zweigverein von der Wilhelmstraße entstanden, der aber alleinstand und sich nicht recht halten konnte. Er nannte sich Christophorus und wurde vom Kaufmann Otto Gruber geleitet. Im Jahre 1888 übernahm der Graf diesen Verein, aus dem sich später die Abteilung „Christophorus“ entwickelte, die ihre Räume in der Friedenstraße 17, jetzt Penzlauer Berg benannt, hatte. Hier half öfter der berühmte Dr. Baedecker, wenn er auf der Durchreise von der Arbeit in den sibirischen Gefängnissen einige Zeit in Berlin blieb, in Frauenstunden und in der Sonntagsschule.

April 1889 trat in diese Arbeit Br. Kreuter ein, der in einem Kursus bei Wangemann in der Heidenmission gestanden und als junger Mensch von 25 Jahrcn irn St.-Michaels-Büro gearbeitet hatte. Leider verlor 1890 diese Arbeit durch Verzug des Gefängnisgeistlichen, Pastor Laasch, Plötzensee, in die Nähe von Köslin einen treuen Seelsorger und Mitarbeiter.

Auch die Arbeit am Gesundbrunnen fing ähnlich an. Ein Hilfsprediger Steurich hatte einen Jünglingsverein in der St. Paulsgemeinde. Der Graf übernahm 1887 diese Arbeit, kommandierte dazu eine Frauengruppe von der benachbarten Wedding~Gemeinschaft ab und mietete einen Saal in der Kleinkinderschule, Koloniestraße 13. Hier stand von 1890-92 der Hilfsprediger Michaelis von St. Paul in inniger Verbindung mit St. Michael, dann zog die Gemeinschaft in das Marienbad, Badstraße 36, von da am 1. Oktober 1889 in das größere Lokal, Straße 66a Nr. 2, später Buttmannstraße genannt, wo die Gemeinschaft noch heute ihre Räume hat.

In demselben Jahre, Januar 1887, wurde auch die Arbeit Südwest begründet. Die Damen Fräulein Woike, von Knobelsdorff, Baronesse von Plotho und Pohlmann haben hier Frauen und Jungfrauen zuerst in den Wohnungen versammelt, bis die Räume Yorckstraße 71 bezogen und hernach mit Gneisenaustraße 4 vertauscht werden konnten. Damit auch unter der männlichen Bevölkerung erfolgreich gearbeitet werden konnte, gab der Graf dieser Arbeit in dem vorhin genannten Br. Gilweit zum 31. März 1889 einen eigenen Reichsgottesarbeiter. Hier hat auch bis zum Ende des Jahres 1893 der Divisionspfarrer Platz mit großer Freude und bleibendem Segen mitgearbeitet. Am 20. November 1889 wurde das neue Haus des CVJM, Wilhelmstraße 34, unter Allerhöchstem Beisein der Kaiserin Auguste Viktoria eingeweiht. Das interessiert uns besonders darum, weil im Vorderhaus am 17. Januar des folgenden Jahres 1890 das Hospiz und die Pension St. Michael mit 60 Zimmern und sehr schönen Gesellschaftsräumen eingeweiht wurde. Die Leitung übernahm Frau von Below-Serpenten. Dem Grafen lag natürlich daran, daß auch dieses Haus und Heim von dem tiefen Frieden Gottes durchweht sein und für viele Kinder Gottes Erquickung und Segen spenden möge. Methodistenbischof Erxleben und Generalsuperintendent Braun sprachen auf dieser Eröffnungsfeier.

Am 1.0ktober 1890 trat neben den seit Januar 1887 bestehenden „St.-Michaels-Boten“ der „Kleine St.-Michaels-Bote“. Jener sollte den Vereinen dienen und andererseits aus den Vereinen nach außen berichten. Diese beiden Zwecke ließen sich auf die Dauer nicht gut verbinden. Die eigenen Mitglieder wurden ermüdet, der auswärtige Leserkreis bekam nicht genug Nachrichten, damit sein lebendiges Interesse am Werk wach gehalten werden konnte. Der „Kleine St.-Michaels-Bote“ erschien als Wochenblatt und als Erbauungsblatt für den eigenen Kreis.

Am Schlesischen Bahnhof wurde in einem Stadtbahnbogen eine zweite Kaffeeküche - die erste hatte sogar schon Überschüsse erzielt - errichtet, damit die Leute von der Schnapsschenke bewahrt blieben und zugleich unter den Einfluß guter Blätter und christlicher Schriften kämen. Bald darauf wurde in der Yorckstraße 67 noch eine dritte Kaffeeküche aufgemacht.

Am 15. Oktober 1890 hatte der Graf mit einer neuen Spezialarbeit begonnen, mit der Arbeit unter den Kondukteuren und Schaffnern der Großen Berliner Pferdeeisenbahn-Gesellschaft in der Nähe der östlichen Depots, um sie mit der Arbeit in der Koppenstraße in Verbindung zu bringen. Es war ein sonntagsloser Stand, darum war des Grafen Interesse so groß für diese Menschen. Man nahm diese Absicht sehr dankbar auf, und einige haben sich im Osten und Christophorus auch wirklich angeschlossen.

Am Schluß des Jahres 1890 wird also an fünf Stellen in 26 Abteilungen und vier Sonntagsschulen mit dem teuren Gotteswort an den einzelnen Seelen aus der Arbeiterbevölkerung gearbeitet, außerdem bestehen zwei Herbergen, zwei Kaffeeküchen und das Hospiz für die bemittelten Stände.

Am meisten wird sich der Graf darüber gefreut haben, daß mit dem 10. Mai in der Jungfernheide bei Plötzensee mit dem sonntäglichen Waldversammlungen angefangen werden konnte, die den lebendigen Beweis brachten, daß auch auf die rohesten Volksmassen das Evangelium seine starke Wirkung ausübte. Mag es hier an Hohn und Spott, selbst an unerhörten, schändlichen Gotteslästerungen nicht gefehlt haben, so hat Gott doch oft die Gebete seiner Kinder erhört, so daß sie jubelnd und triumphierend heimkehren konnten.

Man ging 1895 an eine andere Stelle in der Jungfernheide, die abseits der großen Straße liegt und zum Neuen Johannisfriedhof führte. Hier konnte man an ernstgestimmten Menschen Säemannsarbeit verrichten. So haben die Mitglieder dieses herrlichen St.-Michaels-Werkes oft am verborgenen Quell Trost schöpfen und sich zu neuem Dienst und neuer Arbeit aufrichten können.

Alljährlich fanden zu Weihnachten auch Weihnachtsaufführungen statt, bei denen die Verheißungen und die Weihnachtsgeschichte vorgelesen wurden und farbige Bilder und Kinderchöre den tiefen Eindruck solcher Feiern auf alt und jung noch vermehrten.

Im Jahre 1893 hatte der Freundeskreis von 314 Mitgliedern 4850 Mark aufgebracht, aber die Mittel reichten bei weitem nicht, da das Werk 28.000 Mark und mehr brauchte. Unermüdlich warb Graf Pückler um neue Freunde, mußte aber selbst stets tief in seine Tasche greifen, um das jährliche Defizit zu decken.

Am 12. Januar 1894, an demselben Tage, an dem elf Jahre zuvor die St.-Michaels-Arbeit begann, versammelten sich 450 Vertreter, demütigten sich vor Gott um all der Versäumnisse willen und erflehten einmütig den Segen des Herrn zu diesem großen Werk der Seelenrettung, daß Gott auch aus den schwächsten Gliedern etwas machen möchte zu seines Namens Lob und Ehre.

Unsere Gemeinschaft Osten hatte zum 16. Februar 1894 in die Konkordiasäle zu einer Passionsfeier eingeladen, und aus diesem entkirchlichten Berlin waren 1600 Personen erschienen, die unter schweigendem Ernst den Worten des Pastors Israel lauschten, trotzdem einzelne sich verirrt hatten und zu einem Tanzvergnügen gehen wollten. Der stille, verborgene Dienst der sturmerprobten, treuen Mitglieder ließ die evangelistische Botschaft des Evangeliums so wirkungsvoll sein.

Im September 1894 fiel der erste Mehltau in diese bisher immer noch so gesegnete Gemeinschaftsarbeit: Inspektor Papke trennte sich von St. Michael, Koppenstraße 5, und nahm den größten Teil der Mitglieder mit, so daß nur ein kleiner Rest übrigblieb. Wie verstand der Graf diesen Schmerz zu tragen! Seine Worte im St.-Michaels-Boten vom Oktober 1894 sollen darum folgen und uns noch heute etwas sagen, da durch den Br. Schorr in den Jahren 1930/31 ein ähnlicher Auszug erfolgte: Die durch den Austritt des Inspektors Papke veranlaßte Verminderung unserer Gemeinschaft im Osten gibt uns gute Gelegenheit, von neuem unseres Herrn Treue und Durchhilfe in so herrlicher Weise zu erfahren, daß es schwer zu sagen ist, ob die Trauer über den Verlust manches lieben Mitgenossen früherer Jahre oder die Freude an den lieben, noch vorhandenen Mitgliedern, die eine so gute Hoffnung zukünftigen Gelingens geben, größer ist. Wir haben im treuen Evangelium ein so brauchbares Fischgerät, das wir umso freudiger auswerfen, je mehr wir sehen, daß es in unserer Hand wirksam war auch für diejenigen, die einem anderen Zweig jetzt zueilen zu müssen glauben. Wir wünschen ihnen aufrichtig alles Gute und deswegen auch Einkehr und Rückkehr. Wir werden aber, ohne Aufenthalt weiterwirkend, bald die Räume ebenso besucht sehen wie ehedem und es erfahren, daß der Schlußreim des letzten Liedes am St.-Michaels-Tage, der durch den Christophorus~Chor vorgetragen wurde, sich auch an uns herrlich erfüllt: "Die Rechte des Herrn ist erhöht, die Rechte des Herrn behält den Sieg"!

Im November 1894 trat für kurze Zeit in unsere Arbeit Pastor Meister, früher in London, und im Osten die entstandene Lücke zu schließen und die Arbeit wieder zu heben. Er ist später nach Sadke gegangen, ganz in die Nähe des Nakeler Erweckungsherdes, wo ich ein Jahrzehnt später von der Filialgemeinde Debenke aus die Segensspuren dieses Pastors noch verfolgen konnte.

An Stelle der verstorbenen Br. Scheibke und Grubert trat am 1. November 1895 Br. Hugo Schaarschmidt ein. Im Osten begann Pastor Paul aus Ravenstein eine vierzehntägige Evangelisation. Aber auch die Zahl der freiwilligen Hilfskräfte wuchs, und so konnte das Grundprinzip der Michaelsarbeit, nämlich eine Arbeit christlich erweckter und geleiteter Arbeiter an den eigenen Berufsgenossen, immer mehr der Verwirklichung entgegengeführt werden. Alle Brüder - einige gehörten dem Arbeiterstand an - haben erst in unserer Gemeinschaft die erste Anregung und Ausbildung zu dieser Mitarbeit empfangen, die jüngeren Mitglieder verdienten sich ihre ersten Sporen als Helfer und Leiter in den 90 Kindergruppen unserer Sonntagsschulen. Die innerlich geförderten Frauen arbeiteten in 28 Frauengruppen mit.

Man muß bedenken, daß es sich dabei um Menschen handelt, die den Tag über haben schwer arbeiten müssen, es ist viel Gnade vom Herrn, daß diese einfachen Brüder in einer Weise vom Herrn zeugen können, daß andere Seelen zur wirklichen Bekehrung gebracht werden. Auch viele vornehme Damen - Graf Pückler wünschte sich noch mehr von ihnen - stellten sich in unseren Dienst, z. B. Gräfin Waldersee, Baronesse von Plotho, Frau von Oertzen, Frau von Hassel, Fräulein von Studnitz, Fräulein von Zitzewitz. Vorübergehend schloß sich 1895 auch ein auswärtiger, lebendiger, schöner Geschwisterkreis unter der Leitung von Fräulein Frauenholz in der Nähe von Bautzen an.

Seit 1895 arbeitete Br. Stüwe aus Pommern bei uns, und am 23. Mai 1897 trat Frau Kreuter als Leiterin der Frauenabteilung am Wedding ein, berufsmäßig der junge Bruder Voß.

Am 9. Mai 1897 hatte Christophorus wiederum durch eine aufgelöste CVJM-Arbeit am Alexanderplatz einen neuen Zuzug erhalten und ihren bisherigen Leiter, Br. Manitz, mit übernommen, der, 1900 bis 1901 im Johanneum ausgebildet, heute uns noch am Wedding, in Niederschönhausen und Pankow dient. Am 12. Oktober 1902 bezog die Jungfrauen-Abteilung vom Christophorus ein neues Heim in der Prenzlauer Allee 35, dieses wurde später nach der Landsberger Allee 53/54 und dann nach der Neuen Königstraße 4 verlegt, die Leitung hatte hier Fräulein Wilke, die auch dem Zufluchtsheim vorstand.

Es beginnen zwei neue Arbeiten sich zu entwickeln: die Familie Grittke, zum Wedding gehörig, war nach Friedrichsfelde, Frankfurter Chaussee 2, verzogen und hatte durch Brüder vom Wedding Sonntagnachmittags-Versammlungen halten lassen und auch mit der Kinderarbeit begonnen. Familie Lochow war nach Wilmersdorf, Durlacher Straße 14, verzogen und begann hier mittwochs mit Br. Stüwe Versammlungen zu halten. Beide Arbeiten hatten sich soweit gefestigt, daß sie als neue Zweige dem Michaelswerk eingefügt werden konnten.

Ende 1897 hat also das St.-Michaels-Werk sieben Arbeitsplätze mit zwei Evangelisten, zwei Hausvätern und vier Sekretären. In 48 Versammlungen wurde das Wort Gottes verkündigt (in 27 durch eigene Mitglieder) in 20 Abteilungen mit 1200 festen Mitgliedern, mit sechs Sonntagsschulen in 69 Gruppen und mit 1600 Kindern. In beiden Herbergen haben mehr als 11000 Wanderer genächtigt. In den drei Kaffeestuben fanden sich täglich 350 Gäste ein, im Laufe eines Jahres haben also mehr als 120.000 Menschen christliche Bücher und Schriften gelesen. Der große Michaelsbote wurde von 1550 Lesern gelesen, der kleine wöchentlich von 2000 Lesern.

Im Jahre 1898 hat Prediger Rubanowitsch, aus Reval gebürtig, damals in Straßburg wohnhaft, in der Elsasser Straße 47/48 in einer übelberüchtigten Gegend während einer Dauer von drei vollen Wochen ungehindert und im reichen Segen evangelisiert. Tage hindurch sprach er im überfüllten, von den Stöckerschen Versammlungen her bekannten Eiskeller, der 2000 Menschen faßt.

Am Bußtag 1898 fanden die ersten Versammlungen für Kellnerinnen statt. Für ein halbes Jahr hat auch Pastor Faber von der Londoner Missionsgesellschaft in sehr besuchten Versammlungen in Friedenau, am Wedding und am Gesundbrunnen gesprochen. Den ganzen Sommer 1898 hindurch fanden sonntäglich größere Versammlungen statt, durch Pastor Faber gehalten. Als einmal der Chor singend den Saal verließ und viele Menschen nach sich zog, gab das für Pastor Faber den Anstoß, den Gesang auf den Höfen fortzusetzen. So sang man schon diesen ersten Sonntag auf zehn Höfen. Damit zeigte Gott dem Grafen einen neuen Weg, den Leuten das Evangelium zu bringen. Diesen Weg haben wir bis auf den heutigen Tag nicht verlassen.

Aus dieser gesegneten Arbeit des Pastors Faber entstand die achte Arbeit, die in der Chausseestraße 10/11 am 11. März 1900 neue, schöne Räume bezog. Am Ostersonntag wurden hier alle die zu einem Teeabend eingeladen, die im vergangenen Jahr in sämtlichen Gemeinschaften neu aufgenommen waren. Es waren 26 Personen. Das Gesamtwerk war nun auf 1334 Mitglieder gewachsen. Das Büro war inzwischen von der Friedrichstraße nach der Novalisstraße 1 verlegt worden und am 1. Oktober 1900 nach dem Platz vor dem Neuen Tor 4. Von dort wurde es im Dezember 1901 nach dem Luisenplatz 2 verlegt.

Im Sommer 1896 hat sich Graf Pückler mit Leitern vieler christlicher Kreise zur Evangelisationsarbeit auf der Gewerbeausstellung zusammengeschlossen. Im Anschluß an diese wurden von Fräulein von Plotho und der Gräfin Waldersee nächtliche Versammlungen für Kellnerinnen gehalten. Das führte Graf Pückler dahin, diese Versammlungen später fortzuführen, bis zur Mitternachtsmission. Pastor Faber hatte während seiner Tätigkeit in St. Michael 1898 eines Tages ein Mädchen von der Straße der Gräfin Elisabeth Waldersee ins Haus gebracht. Dazu bekam sie ein Büchlein Delia in die Hand gedrückt. Das legte ihr und dem Grafen diese schwere Arbeit aufs Herz. Am Bußtag fand nachts 12 bis 2 Uhr in den Germaniasälen die erste Versammlung für gefallene Mädchen statt, alle 14 Tage wurde sie wiederholt. Pastor Faber und Graf Pückler beteiligten sich an ihnen. Die Gräfin Waldersee schreibt dazu: "Viele sind in die Sünde zurückgefallen, manche baten um Aufnahme. Die schwersten Enttäuschungen aber erlebten wir an den Helfern“ - eine Beobachtung, die bis heute leider nur zu oft ihre Bestätigung findet. Der Graf hat ihnen in der Chausseestraße 103a ein sehr schönes Heim eingerichtet, aber nach der Einweihung es nie mehr betreten, sondern es ganz in die Hände der obengenannten Damen gelegt.

Inzwischen war durch die Geschwister Seewald und Br. Paulsen in Schöneberg ein neuer Kreis entstanden. Der Graf mietete in der Feurigstraße 37 ein Vereinslokal und ließ dort wöchentlich zwei Versammlungen halten.

Auch in Schmargendorf, Warnemünder Straße 11, später und bis heute Sulzaer Straße 13, versammelten sich bei Br. Berndt ein Kreis verlangender Menschen.

Und zum Abschluß des Jahres 1903 haben wir noch eine kleine Gemeinschaft in Pankow bekommen, die in einer Privatwohnung begonnen hatte, und deren Saal am 31. Januar 1904 in der Brehmestraße 61 eingeweiht wurde. Br. Szeraws, Postbeamter, hat hier treulich rnitgeholfen. In der Zeit von 1900 bis 1905 half wiederum Pastor Michaelis als Missionsinspektor von Lichterfelde aus in unserm Werk.

Als Brüder tätig sind Hochwald, Paulsen, Stüwe und Manitz. Auf dem Büro arbeitet Frau Stillger seit Oktober 1900. Es war nach Werftstraße 21 verlegt worden und Juni 1912 nach Alt-Moabit 132, wo es 20 Jahre verblieben ist, bis es im April 1932 in die Wohnung des neuen Präses, Altonaer Straße 36, übersiedelte.

Es war dem Grafen klar, daß mehr hätte geschehen müssen, daß aber unsere Unvollkommenheiten das Werk Gottes aufhalten: Wo die Gefäße dunkel sind, kann er nicht durchleuchten. Das Werk zählte 1583 Mitglieder mit seinen 12 Plätzen in den 20 Arbeitsjahren und kam in 72 Versammlungen wöchentlich unter das Wort. Es stehen zu der Zeit zur Aufnahme 300 Personen, es ist die Frage, wieviel aufgenommen werden, da wir sie „durch ein sehr enges Sieb“ gehen lassen, und der Graf will noch exakter darin werden, denn es ist zu wichtig, daß wir sind, was wir sein wollen: Leute, die den Herrn Jesus haben und in allem meinen. In den sieben Sonntagsschulen War ein Besuch von 2000 Kindern zu verzeichnen.

Am 6. Juli 1904 fällt eine Wichtige Entscheidung: Unser erstes Vereinshaus, das uns über 21 Jahre gedient hat und ziemlich baufällig geworden war, soll verkauft werden und ein neues an anderer Stelle erbaut werden. Am 30. September wurde der letzte Gemeinschaftsabend in den alten, liebgewordenen Räumen gehalten. Für die Zwischenzeit wurde in den Fabrikräumen Müllerstraße 156b ein vorübergehendes Unterkommen geschaffen. Am 6. Oktober fand hier die erste Versammlung statt. Das alte Haus war zum Teil schon niedergerissen, und ein Stück Alt-Berlin ging mit dem „Fürsten Bliícher“ zu Grabe.

In allernächster Nähe des alten Hauses und des Weddingplatzes kaufte der Graf ein neues Grundstück in der Dalldorfer Straße 24, jetzige Schönwalder Straße 21, um hier ein Vereinshaus mit Hospiz und Familienwohnungen zu errichten. Der Saal soll 1200 Menschen fassen, Baukosten 880.000 Mark. Hier wurde am 20. August 1905 der Grundstein gelegt. Generalsuperintendent Braun hielt die Weihrede über Psalm 84, auch der Dankeskirchenpfarrer Egidi sprach seine Freude aus. Baumeister Hermann verlas folgende Urkunde, die dem Grundstein beigefügt wurde: Im Jahre des Heils 1905, am 20. August, als dem 9. Sonntag nach Trinitatis, nachmittags 1 Uhr, fand die Feier der Grundsteinlegung dieses für die Christliche Gemeinschaft St. Michael bestimmten Gebäudes statt, welches an Stelle des früheren Vereinshauses am Wedding, Müllerstraße 6, tritt, und welch letzteres wegen Raummangel veräußert werden mußte. In diesem früheren Vereinshaus am Wedding entstand die Christliche Gemeinschaft St. Michael als die erste Vereinigung in Berlin, welche gemeinschaftsbildend gewirkt hat, im Jahre 1883. Ihrem ersten Platz am Wedding fügten sich bald andere Gemeinschaftsplätze an, nämlich die Gemeinschaft im Osten, Koppenstraße 5, auf dem Gesundbrunnen, Buttmannstraße 2, die Gemeinschaft St. Michael Christophorus, Friedenstraße 1, die Gemeinschaften im Südwesten, Gneisenaustraße 4, in Lichtenberg, Hubertusstraße 3, in Friedenau-Wilmersdorf, Bernhardstraße 4, in Berlin, Chausseestraße 11, in Schöneberg, in Schmargendorf und in Pankow, im ganzen also 11 Gemeinschaften, welche im Kreisbogen Groß-Berlin umschließen. Als ein weiterer Mittelpunkt dient das St.-Michaels-Hospiz, Wilhelmstraße 34. Auch dieses neue Haus ist wie die anderen Plätze zum ausschließlichen Reichsgottesdienst bestimmt, d. h. zunächst zum Sitz unserer ältesten und größten Gemeinschaft am Wedding und sodann für Evangelisationsarbeit im Weddingstadtteil. So möge es sich zu Gottes Ehre und zum reichsten Segen der Umgebung erheben und vielen ein Anlaß werden, daß sie als lebendige Bausteine sich auferbauen zum geistlichen Hause und zum heiligen Priestertum, zu opfern geistliche Opfer, die Gott angenehm sind durch Jesum Christum! Aber Gott, dem ewigen Könige, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren und Alleinweisen, sei Ehre uncl Preis in Ewigkeit! Amen.

Im März 1905 war Br. Wagner als Hausvater im Osten eingetreten, und vorübergehend tat Bäckermeister Heß uns einen großen Dienst, indem er an arbeitslose Familienväter in seiner Hilfsbäckerei, deren Einkünfte er ganz den Reichsgotteszwecken zur Verfügung stellte, Brot verteilen ließ. Das geschah erstmalig am 9. Januar. 300 Familienväter saßen an den Tischen und wurden mit Kaffee und Kuchen bewirtet, und es wurde ihnen erzählt von dem, der einst in der Wüste und auf dem Berge die Tausende speiste und doch kein Brotkönig war. Weichere Zuhörer, sagt Graf Pückler, habe er nicht gesehen. Wir hatten vier solcher Versammlungen.

Inzwischen war die Kaffeestube vom Wedding nach Moabit, Beusselstraße, verlegt. Am 21. April 1907 verstarb der langjährige Schatzmeister und Mitarbeiter Graf Pücklers, der Königl. Kammerherr Graf Andreas Peter von Bernstorff-Stintenburg, der unsere Finanzen treu verwaltet.

Am 29. September 1907 endlich konnte das neue Vereinshaus am Wedding eingeweiht werden. Zunächst sprach Pastor Christiansen über Apg. 26,17.18, dann Baumeister Johannis und Br. Hochwald. Am 25. Oktober wurde das Hospiz mit seinen 53 Zimmern seinem Zweck übergeben und Fräulein Gertrud Ludwig zur Leitung berufen, später Frau Dr. Nahgel, Frl. von Dobbeler und Frau von Rosen.

1907 bis 1909 beunruhigte die Pfingstbewegung unsere Kreise. Graf Pückler gewann eine besonnene, klar ablehnende Stellung.

1910 berichtete Graf Pückler, daß sich eine neue Gemeinschaft uns angeschlossen hat, die Br. Volkmann, der bei Lichtenberg genannt war, gegründet hat: Wilhelmsberg, Weißenseer Weg 46. Dieser Zweig ist später in die Arbeit Hohenschönhausen übergegangen. Am 3. April 1910 wurde als Berufsarbeiter für Koppenstraße 5 Prediger Koehler eingeführt. Die Gemeinschaft, die bisher in der Chausseestraße sich versammelte, eröffnete am 3. April 1910 ihr neues Lokal Hannoversche Straße 16. Br. Kreuter geht 1911 aus Gesundheitsrücksichten nach Havelberg. In Wilmersdorf übernimmt die Arbeit ein neuer Arbeiter, Br. Antonowitz, der heute Pfarrer in Lichterfelde ist. Forstmeister Eberhard von Rothkirch ging am 15. Dezember 1910 heim, Pücklers bester Freund.

Im Südwesten trat in die Leitung der Frauenabteilung für Fräulein A. v. Zitzewitz Frau v. Stackelberg. Koppenstraße verlor den Magistratssekretär Fibelkorn im April 1912. Br. Abromeit und Hochwald erkrankten im Jahre 1912 schwer. Der erstere starb bald nach der Erkrankung am 28. Oktober im Alter von nur 33 Jahren. Ursprünglich Schneider, ist er nach Liebenzell zur Ausbildung gegangen, er wurde Herbergsgehilfe irn Osten, kam 1907 ins Büro und wurde Vereinswart am Christophorus. Br. Hochwald aus dem Duisburger Diakonenhaus, vorher in Osterode gewesen, wirkte besonders am Wedding, im Südwesten und in Schöneberg.

Neu trat 1913 Br. Ehrhardt ein, der 1901 in Nakel seinen Herrn gefunden hatte, der uns aber zum Herbst verließ und durch Br. Huuk ersetzt wurde.

Für die Jungmännerarbeit wurde Jobst Heinrich von Bülow als Sekretär Anfang 1914 gewonnen.

Es begann eine ganz neue Arbeit: die Schwesternarbeit in Friedenau am 28. Februar 1914 am Maybachplatz 14/15, die durch Schwester Emma Zink uns geschenkt wurde als Arbeit an Kindern, in der Krankenpflege, Armenpflege und Schriftenverbreitung.

So war manche Arbeit bei uns im Aufblühen, als der Weltkrieg begann und die schöne Arbeit jäh unterbrach. Gleich am 2. Mobilmachungstage mußte Graf Pückler als Rittmeister sich stellen, der sich gerade auf seinem Herrschaftssitz in Schedlau nach einer längeren anstrengenden Missionsreise durch Südosteuropa zu erholen suchte. Die Brüder Antonowitz und von Bülow wurden gleichfalls zur Fahne gerufen. Rechnungsrat Hagedorn sprang in den Riß. Es war eine ernste Prüfungszeit, viele Brüder fielen, dem Br. von Bülow wurde ein Bein abgeschossen. Inzwischen war Br. Schimming in unsere Arbeit gekommen und versah in großer Treue den schweren Dienst in Friedenau. Außerdem kam 1915 Prediger Quiering in unsere Arbeit. Zum erstenmal wurde eine Dankopferwoche vom 31. Januar bis 7. Februar 1915 veranstaltet, da viele Einnahmequellen versiegt waren und der Landproduktenverkauf im vergangenen Herbst nicht stattfinden konnte. Die Dankopferwoche brachte 3400 Mark ein.

Für die Munitionskolonne wurden fleißig Liebesgaben gesammelt. Eine solche Sammlung beantwortete der Graf mit folgendem Brief vom 13. Dezember 1914: Teure Geschwister! Was für eine Freude habt ihr mir bereitet durch die prächtigen Weihnachtsgaben für meine Kolonne! Ich bin Euch von ganzem Herzen dankbar und weiß auch, daß die lieben Kanoniere es sein werden, wenn wir ihnen am Weihnachtsabend die Gaben einbescheren werden. Wir haben in M. eine prächtige, große Kirche, die müßt ihr Euch denken im Licht zweier großen Christbäume erschimmern. Dort werden auf langen Tischen Eure Gaben liegen. Dann wird das „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden“ erschallen, und die herrlichen Lieder unserer Weihnachtsliturgie werden brausend erschallen, und da wird es weihnachtlich werden in vielen Herzen. Eure Gaben der Liebe aber werden deutsches Heimatsgefühl der Feier beifügen, und so werden wir Weihnachten feiern wie im Vaterland. Wir werden Euer gedenken und ihr vielleicht an uns, und so werden wir, Ihr in Deutschland und wir in Frankreich, Gemeinschaft haben in dem kleinen Kinde, das so gern allen mühebeladenen Herzen den Frieden geben möchte, auch der Welt, die in Waffen starrt, welche Not und Tod zufolge haben. Aber so unwahrscheinlich es jetzt aussieht, kommen wird doch bald sein Friedensreich und der Tag, da es in jedem Sinne Wahr wird: „Friede für die Menschen des Wohlgefallens. Gott bereite uns dazu, Euch zu Hause und uns unter dem Donner der Feldkanonen, bei denen wir dennoch Weil1nad1ten feiern, zu hoffen in seinem Frieden. Gott mit Euch und auch mit uns!

Euer Euch von Herzen dankharer E. Pückler.

An Stelle der im Felde stehenden Brüder dienten hin und her die Berliner Pastoren Kaiser in Wilmersdorf und Schulz vom Lazarus-Krankenhaus, Dr. Preuß, Himmelfahrt, Pastor Roos, Lichtenrade, Pastor Krause, Paul Gerhardt, Pastor Geest, Schöneberg, Pastor Sehwebel und Pastor Dr. Dibelius, Buchhändler Albert, auch Dr. Eberhard Arnold.

Die großen alljährlichen Versammlungen am Karfreitag mit Pastor Korth vom Lazarus-Krankenhaus als Redner, der Himmelfahrtsausflug, das Gartenmissionsfest im Charlottenhof, das während des Krieges auch stattfand, wurden weiter gehalten, ebenso am 26. September 1915 das St.~Michaels~Fest, zu dem aus seinem ersten Urlaub unerwartet Graf Pückler erschien.

Das Schwester- und Kinderheim dehnte sich sehr aus. Statt sechs waren es jetzt 23 Schwestern, und es suchte bereits nach zwei Jahren nach einem eigenen Heim und sammelte dafür Geld. Das erste Haus wurde 1915 in Friedenau, Kaiserallee 121, und das zweite Haus im Oktober 1917, Kaiserallee 122, gekauft. Diese beiden Häuser wurden am 30. März 1918 eingeweiht. Drei berufliche Prediger befanden sich im Felde. Viele gefallene Brüder bewiesen mit ihrem Tode, daß sie auch brave, ehrliche Streiter und Kämpfer sein konnten.

Zum neuen Jahre 1919 nahm Graf Pückler mit folgenden Gedanken das Wort: Wir haben in dem schwindenden Jahre viele Stufen hinabgehen müssen. Unser sieghaftes Heer hat sich für besiegt erklären und das deutsche Land dem Feinde öffnen müssen. Unser Kaiserthron ist umgestürzt, und drohende Wolken umlagern unsere Grenzen und verdichten sich auch im Innern zu einer nicht wegzuleugnenden schweren Gefahr. Aber über dem allen thront unser Gott, und wenn er von der einen Seite die schweren Gerichte über uns heraufführt, damit wir als Volk nicht unfähig werden durch Sünde und Gottvergessenheit, hören wir ihn von der anderen Seite, sich mit Barmherzigkeit zu uns herabneigend, flüstern: Ich weiß wohl, was für Gedanken ich über euch habe, nämlich Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. Beides ist eine Gnade, sowohl die Gerichtshand Gottes als auch die tröstende, lindernde und wiederaufrichtende Hand. Darum wenn auch Herzeleid liegt an den Pforten des neuen Jahres, so liegt umso mehr Hoffnung davor, daß der Gott, von dem wir singen: ,denn was er tut und läßt geschehen, das nimmt ein selig End!', daß dieser Gott das auch jetzt ausführen wird an unserm Volk und vor allem an seiner Gemeinde, die er sich erkauft und festiglich erwählt hat.

Die Trennung von Kirche und Staat, durch den „Rat der Volksbeauftragten“, den kein Volk beauftragt hat, einfach verfügt, rief am 9. Dezember 1918 in der Wilhelmstraße 34 eine Besprechung innerhalb der Gemeinschaftskreise hervor und brachte den Vorschlag des Pastors Michaelis von Minoritätsgemeinden innerhalb unserer liberalen Gemeinden, und Graf Pückler meinte dazu: „Wenn wir die Hand an die Kirche der Zukunft legen, um sie zu bauen, sollten wir uns tief auf unsere Bibel herabneigen und sehen, was Gott uns darin mitteilt, und danach handeln. Aber wir sollten auch das Bestehende bewahren, nämlich das große Netz, in dem man allerlei Gattung fängt, das über unser Volk geworfen ist durch die bisherige Staats- und Landeskirche, die, wenn sie auch nicht das Ideal einer biblischen Kirchenbildung ist, doch sicherlich viel geleistet hat für das Volksganze.“

Graf Pückler redete der Aufhebung des Parochialzwanges das Wort, die er für eine unerläßliche Notwendigkeit ansieht, weil sie allein dem freien Spiel der Kräfte Raum gibt und die wundervolle Freiheit begründen hilft, in der das reine Gottesleben sich stets am herrlichsten entwickelt hat.

Auf der Verfassunggebenden Kirchenversammlung hat der Graf eine führende Rolle gespielt.

Es war ihm ein hohes Anliegen, die Aufgabe Gnadaus unvermischt mit anderen Zwecken zu erhalten. Evangelisation und Aufbau der Gemeinschaften im Rahmen der Landeskirche, dies ganz, aber nichts darüber hinaus, hinsichtlich der Beteiligung der Gemeinschaftsleute an der Kirchenpolitik verfocht er den Grundsatz, daß Gemeinschaftsleute bei der Kirche niemals Extrawünsche für ihre Bewegung durchzusetzen hätten, sondern vielmehr, was sie aus ihrem biblischen Erkenntnisgut heraus forderten, müßten sie als Glieder dieser Kirche für die ganze Kirche fordern.

In der Michaelsarbeit traten einige Veränderungen ein.

Br. Schimming wurde arn 8. April 1919 in die Wedding-Gemeinschaft eingeführt, nachdem Br. Antonowitz, aus dem Felde zurückgekehrt, Friedenau wieder übernahm.

Am 3. August 1919 war die Leiterin des Hospizes St. Michael, Wilhelmstraße 34, Frau Oberin Luise Kreysern, im Alter von 79 Jahren gestorben, die 26 Jahre das Hospiz im Segen verwaltet hatte. Nachfolgerin wurde ihre langjährige treue Mitarbeiterin, Frau Martha Neumann. Beide sind uns unvergeßlich in der Hingabe und der Liebe, mit der sie ihre Arbeit in den Dienst der Gemeinschaft stellten. Für die Arbeit irn Osten und auch für Christophorus wurde im Herbst 1919 Br. Schorr gewonnen.

Am 30. April kam die Gemeinschaft Frankfurter Str. 133 zu uns nach der Koppenstraße 5 hinüber. Frau Behrendt übernahm eine Sekretärinstelle für die Jungfrauenarbeit, um ein Band zwischen den einzelnen Vereinen zu bilden und Anregungen zu geben. Gleichzeitig wurde Fräulein v. Münnich die Leiterin für gemeinsame Zusammenkünfte der Leiterinnen.

Die früheren Mitarbeiter, Prediger Voß (1900-1902), Hugo Schaarschmid und Br. Gilweit, starben im Jahre 1922. Die Gehälter mußten bei steigender Entwertung unseres Geldes, der sogenannten Inflation, auf das Fünffache erhöht werden und machten eine außerordentliche Mitgliederversammlung am 3. November 1922 notwendig, auf der einstimmig beschlossen Wurde, eine halbe Stunde Arbeitslohn für Gottes Werk in St. Michael zu opfern. Der große St.-Michaels-Bote mußte sehr verkleinert werden.

Dann kam der schwerste Tag, den das St.-Michaels-Werk durchzumachen hatte, der Tag, an dem Eduard Reichsgraf von Pückler, Herr auf Schedlau, Lenschütz und Rothlach, seine Augen für immer schloß, der 31. März 1924.

Über 40 Jahre hat er, so sagte Br. Hagedorns Nachruf im St.-Michaels-Boten, das köstliche Reichsgotteswerk von St. Michael über Klippen und Schlünde, oft unter Darbringung größerer persönlicher Opfer, als Präses leiten dürfen. Das Werk war aus der Gemeinschaft am Wedding gewachsen, so daß an 12 Stellen Groß-Berlins Versammlungssäle vorhanden waren, in denen von vier Berufsarbeitern und anderen Hilfskräften allwöchentlich in ungezählten Versammlungen das Wort vom Kreuz verkündet wird. In weiser Berücksichtigung menschlicher Vergänglichkeit hatte der Verstorbene bei Ausbruch des Krieges unter der Benennung „Geschäftsführender Verein der Christlichen Gemeinschaft St. Michael zu Berlin“ eine rechtsgültige Vereinigung gerichtlich eintragen lassen. Ihr sind alsdann alle zuvor erwähnten Gebäude samt Inventar als Schenkung vermacht und überschrieben worden. Den Vorsitz hatte Graf Pückler inne, stellvertretender Vorsitzender war Rechnungsrat August Hagedorn, Berlin-Steglitz, und Schatzmeister Kaufmann Otto Kogelschatz in Berlin-Südende.

Pückler war ein Mann von starkem Willen und überragender Tatkraft. Was er - zumal auf Glaubensgebiet - als allein recht und wahr erkannt hatte, vertrat er mit heiligem Eifer und ließ sich von keinem Einspruch beirren. Vor ihm galt nur eine absolute Autorität. Die war der dreimal heilige Gott, vor dem er sich wie ein unmündiges Kind unter der Hand des Vaters in aufrichtiger Demut und allezeit beugte. In ihm lebte und wirkte er. Niemals nach seiner Bekehrung hatte er eine Sache begonnen, ehe er nicht die innere Überzeugung hatte, daß sie gottgewollt sei. Daß unbeschadet des zweifelsfreien Vertrauens zu seinem Herrn - menschlich und töricht beurteilt - der eine oder der andere Fehler unterlief, ist ein Vorkommnis, das allein unter die künftige Offenbarmachung Gottes fällt. Nun hat die Liebe des himmlischen Königs den treuen Leiter und demütigen Knecht, den kraftbegnadigten Beter zu sich in die Ewigkeit gerufen. Seine letzten Erdenstunden waren vom Morgenglanz der Ewigkeit verklärt. Gleichsam träumend ist er durch das Todestor hindurchgegangen. Wir aber stehen trauernd und schmerzerfüllt, noch mehr aber dankbewegt vor Gott, den wir für die Gnade preisen, die er dem lieben Freund und Bruder im Leben und im Sterben zuteil werden ließ.“

Die Gedenkfeier für St. Michael fand am 13. April im großen Saal der Gemeinschaft, Schönwalder Straße 21, statt, auf der der Vorsitzende des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, Pastor Michaelis, die Gedächtnisrede hielt, in der er etwa folgende Gedanken aussprach: Das ganze Tun und Lassen unseres teuren Heimgegangenen wurde bestimmt durch den Gedanken an Gottes Reich und sein Kommen, durch Jesus und seinen Willen. Er hatte eine große Gabe, nämlich die des himmelandringenden Gebets. Eine besondere Kraft lag in seiner felsenfesten Überzeugung. Selbst kritische Studenten nahmen aus der Begegnung mit ihm und aus seinen Ansprachen doch den Eindruck mit: Dieser Mann steht für seine Überzeugung, wenn es sein muß auch mit seinem Leben. Der Verstorbene besaß eine reiche geschichtliche Bildung und, was ihn noch besonders auszeichnete, eine herzgewinnende Freundlichkeit. Dabei gab er sich stets natürlich. Saß er auf dem Pferde, so war er Reiter - im Kriege derselbe wie in St. Michael oder auf einer Studentenkonferenz. Ihn beseelte eine heiße Liebe zu seinem Volk. Als 6ljähriger zog er noch mit in den Krieg und ist, wie kaum ein anderer, bis zu seinem letzten Atemzuge fürbittend für sein Volk eingetreten.

Was hat St. Michael alles verloren! Den Mann der Hingabe, seinen treuesten Freund, einen Beter, wie es wenige gibt, den bewährten Leiter des zwölffach verzweigten Werkes. Jesus war das Thema des Heimgegangenen. Er rief nicht nur: Bekehret Euch, sondern malte den vor Augen, zu dem man sich bekehren soll. Als rechter Gemeinschaftsmann, der die biblische Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen in die Tat umzusetzen suchte, liebte er alle Jünger Jesu. Er hat aber niemals versucht, die Gemeinschaft an die Stelle der Kirche zu setzen. In der Kirche, soweit sie Jesus bringt, sah er eine Gelegenheit für das Volk. Die Triebkraft seiner Arbeit war eine alle Menschen umfassende Liebe, sein Glauben ein Rechnen mit dem allmächtigen Heiland. Sein Vorgehen geschah unter Jesu Leiten. Hatte er in früheren Jahren auch einen etwas einseitigen Begriff von Geistesleitung, so war er in seinem Tun doch oft wunderbar legitimiert. Gott sah auf seinen ernsten Willen, sich in allen Dingen leiten zu lassen.

Ein neuer Abschnitt der St.-Michaels-Geschichte beginnt. Baut auf demselben Grunde, im selben Geiste, so wird es euch nicht fehlen! Sucht nicht den eigenen Willen durchzusetzen! Ringt um die Leitung durch Jesus! Gott gebe euch in allem diesen seinen Geist der Einmütigkeit.

Acht Tage vorher wurde seiner als des Vorsitzenden des Märkischen Gemeinschaftsverbandes im selben Saal gedacht, und am 24. April folgte eine Gedächtnisfeier im Saal Wilhelmstraße 34 für die Gemeinschaften Groß-Berlins. Über die Beisetzungsfeier in Schedlau am 3. April 1924 schrieb ein Teilnehmer:

Wir sind von Herzen dankbar, daß uns der gütige Gott unseren teuren Präses so lange gelassen hat, mußten wir doch schon seit Monaten jeden Tag mit seinem uns nun doch überraschend gekommenen Heimgang rechnen. So kam's, daß viele teure Freunde, die die Todesanzeige verspätet erhielten, ihm auf seinem letzten Weg nicht das Geleit geben konnten. Aber in uns aus St. Michael, die wir am 3. April an seinem Sarge stehen durften - sein liebes Gesicht konnten wir leider nicht mehr sehen -, lebte doch neben allem Schmerze die siegeshafte Tröstung, daß der treue Gott das geistliche Kind unseres Heimgegangenen, das er so oft mit Tränen der Freude und des Dankes betaut hat, nicht liegengelassen wird.

Als um halb 12 Uhr die eindrucksvolle Trauerfeier mit dem gemeinsamen Liede: „Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt' Gott, ich wär in dir!“ ihren Anfang nahm, war's uns beim Singen des dritten Verses: „Was für ein Volk, welch eine edle Schar kommt dort gezogen schon?", als kämen alle die durch St. Michael und insbesondere durch den Heimgegangenen für das Lamm gewonnenen Seelen dem Überwinder zum Empfang entgegengezogen. Wir verspürten wirklich etwas von dem offenen Himmel, den uns Pfarrer Dietrich in dem Schriftwort Apg. 7, 54-59 aus innerstem Herzen heraus vor unsere Seelen stellte. Worte tiefster Dankbarkeit sprach dann im Auftrage des Gnadauer Verbandes, der DCSV und zugleich im eigenen Namen Graf von der Recke-Vollmarstein. Gebet und Segen bildeten den Abschluß der Feier im Schlosse, und unter dem Gesang des Kinderchores: „Christus, der ist mein Leben“ wurde der Sarg von Mitgliedern des Krieger-Vereins hinausgetragen. Auf dem Wege zur Gruft spielte eine Kapelle der Reichswehr den Chopinschen Trauermarsch, und die Kinder sangen: „Jesus meine Zuversicht.“ An der Gruft hielt der Ortsgeistliche, Pfarrer Becker, Falkenberg, die tiefempfundene Grabrede, und unser Br. Manitz dankte in bewegten Worten unserm Vater und Führer für alle Liebe und Güte und gelobte zugleich in unser aller Namen die unbedingte Treue und Hingabe an das St.-Michaels-Werk. Nach der Ehrensalve, dem Gebet und Segen sang die Gemeinde ergriffen: „Laßt mich gehn, laßt mich gehn“, und dann klang aus dem Munde seiner anwesenden Michaelskinder noch das von ihm so oft gesungene und geliebte Herrlichkeitslied: „Wenn nach der Erde Leid, Arbeit und Pein.“ Die Kavallerie-Retraite bildete den Schlußpunkt der Feier.

Er sieht nun den, dem seine ganze Liebe gehörte. Aus unserer Seele aber rang sich ein Treueschwur: Wir wollen glauben und lieben wie er! Du auch? Ja, unbedingt! Der Herr walt's in Gnaden! Es folgen die Nachrufe wörtlich:

Am 31. März wurde nach langem, schwerem, mit großer Geduld ertragenem Leiden zur Ruhe des Volkes Gottes heimgerufen der Begründer und Präses unseres Evangelisations- und Gemeinschaftswerkes Herr Eduard Graf von Pückler auf Schedlau (Oberschlesien). Er war ein treuer und lebendiger Zeuge seines Heilands und Erlösers, der mit seltener Hingabe und heiligem Eifer bis zuletzt für ihn wirkte und vielen den Anstoß zu einer ewigen Bewegung gab. Wir verlieren viel mit ihm und stehen in tiefer Trauer an seiner Bahre, aber auch mit großer Dankbarkeit gegen Gott, der uns solchen Leiter und Führer gab. 'Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels Glanz und, die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.' (Dan. 12,3).
Berlin NW, den 1. April 1924, Alt-Moabit 132, Die Berufsarbeiter der Evang. christlichen Gemeinschaft St. Michael

Am 31. März wurde in die himmlische Heimat gerufen Herr Graf Eduard von Pückler auf Schedlau. Sowohl durch das Beispiel edler Vorfahren als auch durch eigene Herzensüberzeugung fühlte er sich verpflichtet, ein christliches Vorbild zu sein und hat in feurigem und tapferem Eintreten für die Sache seines himmlischen Königs in aufopfernder Hingabe und edler Wohltätigkeit durch 25 Jahre auch in treuer Mitgliedschaft in unserem Gemeindekirchenrat stets aufrichtigen Herzens seine Heilandsliebe betätigt. Er wird uns unvergessen sein.
Der ev. Gemeindekirchenrat der Kirchengemeinde Falkenberg (O-S)
Becker, Pastor.

Am 31. März ist auf seinem Gute Schedlau in Oberschlesien im 71. Lebensjahre Graf Eduard von Pückler verstorben. Mit ihm ist einer der Väter unseres Vereins heimgegangen. Er gehörte zu den sechzehn Männern, die an jenem 22. Januar 1883 im Hause Behrenstraße 29 zu Berlin die denkwürdige Erklärung unterschrieben: Wir, die Unterzeichneten, treten hiermit zur Bildung eines Christlichen Vereins junger Männer zu Berlin zusammen. Freilich hat ihm Gott in der Folge ein anderes Arbeitsfeld gegeben, die Gemeinschaft St. Michael, aber als unser Verein fünf Jahre nach seiner Gründung vor einem großen Entschluß stand, nämlich sein jetziges Grundstück zu erwerben, da trat Graf Pückler wieder auf den Plan: er war es, der die Finanzierung der Bebauung des Grundstücks dadurch Wesentlich erleichterte, daß er sich erbot, ein an der Straßenfront zu erbauendes Hospiz auf zehn Jahre zu mieten. Noch heute besteht das Mietsverhältnis mit der Gemeinschaft St. Michael. Im weiteren Verlauf ist Graf Pückler durch die jährlichen, von der genannten Gemeinschaft und unserm Verein veranstalteten Missionsfeste in steter Fühlung mit uns verblieben, wozu die Freundschaft, die ihn mit unserem unvergeßlichen ersten Präses von Rothkirch und später mit unserem Vizepräses Kogelschatz verband, ihr wesentliches Teil beitrug. Graf Pückler war ein lauterer Jünger unseres Herrn Jesus, ein Mann des Glaubens und der Tat, ein Mann des lebendigen Zeugnisses und einer Opferbereitschaft sondergleichen. Seine Verkündigung bewegte sich nicht in hergebrachten Gedanken und Formen, sondern hatte stets etwas Ursprüngliches an sich und quoll als Zeugnis eines reichen Erlebens der Gnade aus seinem Herzen. Wer ihn gekannt hat, wird mir beipflichten, daß seine Rede allezeit lieblich und mit Salz gewürzt war und man jedesmal etwas Besonderes daraus mitnehmen konnte. Noch zu dem 40. Jahresfest unseres Vereins hatten wir die Freude, ihn unter uns zu sehen und sein Zeugnis zu hören, nicht ahnend, daß es das letztemal sein sollte. Nun hat er überwunden und gehört zu der großen Wolke von Zeugen, die wir um uns haben. Laßt uns sein Gedächtnis unter uns ehren und in dankbarer Liebe seiner gedenken!
Christlicher Verein junger Männer, Berlin, Wilhelmstraße 34, Eismann

Übersicht über die Geschichte der Christlichen Gemeinschaften St. Michael
Autor: Max Diedrich (1958)

Kapitel 1 - Die religiöse Lage in Berlin um 1880
Kapitel 2 - Eduard Graf von Pückler
Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft
Kapitel 4 - Gemeinschaft - Gemeinschaftsbewegung - Kirche
Kapitel 5 - Die St.-Michaels-Gemeinschaft in ihrem inneren Aufbau
Kapitel 6 - Das St.-Michaels-Werk im äußeren Wachstum
Kapitel 7 - Graf Pückler in seiner Bedeutung für das Reich Gottes
Kapitel 8 - Die Gemeinschaften und Sonderarbeiten
Kapitel 9 - Die religiöse Lage in Berlin um 1955

Überarbeitung von Hellmut Hentschel (2010)

Kapitel 1 - Die religiöse Lage in Berlin um 1880 (überarbeitet 2010)
Kapitel 2 - Eduard Graf von Pückler (überarbeitet 2010)
Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft (überarbeitet 2010)

Geschichte der Christlichen Gemeinschaften St. Michael der Dekade 1870 / Dekade 1880 / Dekade 1890 / Dekade 1900 / Dekade 1910 / Dekade 1920 / Dekade 1930 / Dekade 1940 / Dekade 1950 / Dekade 1960 / Dekade 1970 / Dekade 1980 / Dekade 1990 / Dekade 2000 / Dekade 2010
Jahres-Chroniken ab 1870 (in Bearbeitung)