Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft

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GESCHICHTE DER CHRISTLICHEN GEMEINSCHAFTEN ST. MICHAEL


Autor: Max Diedrich (1958)


(dieser Text ist als ein Geschichtsdokument anzusehen, manche Worte und Ausdrucksweisen sind heute nicht mehr gebräuchlich)





Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft
Eine Masse von Menschen war also in den Arbeitervierteln in Berlin herangewachsen, die, jedes Heimgefühls beraubt, der sozialistischen Hetzpropaganda zum Opfer gefallen, mit einer Kirche, die nicht zu ihnen kam, weil sie nicht zu ihnen kommen konnte, nichts mehr zu tun haben wollten. Die Entfremdung von der Kirche führte zur Verachtung des Wortes Gottes. Nirgends mehr zu Hause als in den Kneipen und Arbeitsstätten, unter rohen, fluchenden Kollegen, entwickelte sich ein Massenelend, das treue Gottesmänner nur mit Schrecken in die Zukunft sehen ließ. Mich jammert des Volks, das keinen Hirten hat.


Stöcker war in Amerika gewesen und hatte Moodys und Sankeys gewaltige Zeugniskraft von Christi herrlicher Erlösungstat dort gehört, hatte in London Graf Shaftesburys segensreiche Stadtmissionsarbeit von 400 Stadtmissionar beobachten können. Da brannte dem Hofprediger das Herz: Er wollte auch in Berlin dem arbeitenden Volk, das nur für den Tag und in den Tag lebte, ein ewiges Ziel stecken und Sinn für ewige Werte wecken. Er setzte sich in Verbindung mit Professor Christlieb in Bonn, mit dem er, zugleich mit Baron von Oertzen in Hamburg, zu einem Komitee gehörte. Man berief den Deutschamerikaner Friedrich von Schlümbach nach Berlin, um in den Vorstädten von Berlin den verhetzten Arbeitermassen das Evangelium von Jesu rettender Gnade zu bringen.

Einst ausgewandert als ehemaliger Offizier, hatte Friedrich von Schlümbach im August 1868 durch Gottes Gnade eine echte Bekehrung erlebt, die ihm am anderen Morgen als einen neuen Menschen auf seiner Arbeitsstätte das Bekenntnis ablegen ließ, er habe sich zum Glauben an Gott bekehrt. Man übergoß ihn mit Hohn und Spott. Standhaft ertrug er das, da er seine Arbeitskollegen für Gott zurückgewinnen wollte. Das in ihm lodernde Feuer packte ihn ganz gewaltig: er wollte ein Prediger des Evangeliums werden. Als Zeitungsredakteur mochte er nicht mehr wirken, da er, völlig mittellos, zunächst noch einen Beruf haben mußte, nahm er eine Stelle als Postbeamter an. Er benutzte jede freie Stunde, auch in der Dienstzeit, um sich auf den neuen Predigerberuf vorzubereiten. Zunächst wurde er Prediger einer Methodistengemeinde, später trat er in eine der deutsch-evangelischen Synoden ein, die mit den deutschen Landeskirchen in Verbindung standen. Man kann ihn also nicht als Methodisten und Heilsarmisten abtun. Schwer litt er darunter, daß er einst so viele junge Leute verführt hatte, auf den breiten Weg des Verderbens zu gehen. Seine ganze Liebe gehörte der Jugend. Er verstand es, mit wahrhaft stürmischer Beredsamkeit für seinen Heiland zu werben. Heilslieder aus seinem Munde fielen wie Himmelsgesang in die Herzen der Zuhörer. Seine Erlebnisse und Erfahrungen weckten die toten Gewissen auf. Zunächst als Generalsekretär des Nationalbundes der Deutsch-Christlichen Vereine junger Männer nahm er seinen Sitz in New York. Sein brennendes Herz rief in die Lasterhöhlen und Vergnügungsstätten, um aus ihnen die Jugend herauszuholen. Gott gab ihm Gnade, vielen ein Künder neuen Segens und Retter aus ihrem Verderben zu werden.

Im Jahre 1881 kam Schlümbach zum ersten Male wieder nach Europa, um in London an der internationalen Jünglingskonferenz teilzunehmen. Hier lernten ihn die deutschen Vertreter der deutschen Jünglingsvereine kennen und luden ihn im Jahre 1882 nach Stuttgart zum Bundesfest des Süddeutschen Jünglingsbundes ein. Seine imponierende Gestalt, seine leuchtenden Augen, seine gewaltige Stimme, seine kraftvollen Worte packten die Zuhörer und begeisterten sie.

Dann reiste er nach Berlin, berufen von Stöcker und von dem Pfarrer an der Nazarethkirche, Diestelkamp. "Den müssen wir haben", sagte Stöcker, als er Schlümbach in London gehört hatte. In den Schanklokalen des Nordens innerhalb der riesigen Nazarethgemeinde hielt Schlümbach nun wochenlang täglich Versammlungen, und da stellte sich auch allabendlich Graf Pückler trotz schwacher Gesundheit und trotz seiner Vorbereitung zum Assessorexamen ein und hörte mit den Arbeitern diese Vorträge an. Pückler schreibt über sie folgendes: "Das war ein Mann, der die moderne Arbeit verkörperte. Er kam nicht in kirchlicher Manier, sondern als gemütlicher, freundlicher Kamerad zu den Leuten. Zur großen Verwunderung der Berliner stellte er sich hin und sang Sololieder, daß die Fenster klirrten. Es gab einen ungeheuren Zulauf zu seinen Versammlungen, deren er täglich mehrere hielt. Er hatte den Boden Berlins für wirkliche Reichsgottesarbeit zubereitet." Der Zudrang wurde so groß, daß selbst die großen Säle die Zuhörer nicht mehr zu fassen vermochten.

Der "Reichsbote' vom 23. Januar 1883 schrieb über diese Versammlungen: "Schlümbach wollte die unkirchlichen Massen erreichen. Die Einladungen erfolgten nicht in der Presse, sondern durch Karten, die nur in ein paar Straßen abgegeben wurden. Solche Helfer, die die Karten von Haus zu Haus trugen, fanden sich. Immer 8-14 Tage lang fanden die Versammlungen in demselben Lokal statt. Abend für Abend stellten sich die Zuhörer ein, zuerst 200, bald 500, 700, 1000 und mehr. Die Herzen wachen auf. In vielen Zuschriften und auch mündlich drückten die Erweckten dem Pastor von Schlümbach ihren Dank aus und geben Gott die Ehre. Bald ist es ein Trunkenbold, der ihn um Hilfe und Fürbitte bittet, bald eine Hehlerin, die ihm schreibt, sie sei gewonnen und entschlossen, alles von ihr Gestohlene zurückzugeben, dann wieder ein Sozialdemokrat, der ihm mitteilt, er sei von seinem Irrweg gerettet und habe nun Frieden gefunden und mit ihm viele andere. Ein anderer schickt seine goldene Uhr als Dankopfer zum Bau des Reiches Gottes. Trunkenbolde, Witwen, Konfirmanden, am Rande des Verderbens angekommene Mädchen bekennen ihre Sünden, finden den Weg zum Frieden, lernen beten und glauben. Der Jünglingsverein blüht auf, der Männerverein, dreifach gewachsen, sieht seine Glieder jetzt in treuer Mitarbeit. Der Kirchenbesuch nimmt so zu, daß am Abend Parallelgottesdienste nötig werden."

Und ähnlich äußert sich Graf Pückler: "Entkirchlichte Leute wurden allabendlich Besucher der Versammlungen, Gewohnheitschristen wurden freudige Bekenner, und selbst notorische Diebe und Einbrecher lagen unter dem Kreuz Christi und fanden Gnade.'

Aber es darf uns nicht wundernehmen, daß man diese neue Bewegung nicht verstand, sie mißtrauisch und argwöhnisch beobachtete, und daß in einer Protestversammlung ein namhafter Geistlicher sogar den Ausspruch tat:

Da kommen diese Herren wie Sternschnuppen über das Meer herüber, durchziehen unsere Gemeinden und dann verschwinden sie wieder. Es bleibt nichts als Unruhe. Man tat diese Bewegungen ab als englische und amerikanische Pflanzen, die auf deutschem Boden doch nicht gedeihen könnten. Wie gut, daß der Generalsuperintendent Braun, der 1884 nach Berlin gekommen war und bisher in Gütersloh in großem Segen gearbeitet hatte, seine schützende Hand über diese junge Bewegung hielt und sich besonders der gläubigen Christen annahm! Rückblickend schrieb später Graf Pückler:

Ich machte viele politische Versammlungen mit - gemeint sind wahrscheinlich die berühmten Eiskellerversammlungen Stöckers -, aber ich fühlte, der Kern bleibt in ihnen doch unberührt. Hier ist der tiefe Unterschied zwischen Stöckers mehr politischem Auftreten und diesen Versammlungen Schlümbachs klar erkannt. - Hier am Wedding war es anders. Das Wort Gottes faßte die Herzen, und Gottes Geist wirkte mächtig an vielen. Damals gerade machte ich mein Assessorexamen. Ich war überzeugt, daß das nicht mein Lebensberuf bleiben würde, aber auch überzeugt, daß Gott mir zeigen würde, was ich tun sollte. Am Schluß einer jener Versammlungen am Wedding forderte mich Pastor von Schlümbach zu einem Projekt auf, das er vorhatte. Wir alle hatten das Gefühl, daß das, was uns Gott hier geschenkt, gepflegt und die Bewegung weitergeführt werden müsse.

Da stand vor dem jungen Grafen und neugebackenen Gerichtsassessor eine große Aufgabe, ein herrliches Ziel, aber auch eine schwere Verantwortung, die er nicht meinte allein tragen zu können: diese so gesegnete Evangelisationsarbeit zu übernehmen, die gläubig gewordenen Menschen zu sammeln und weiterzuführen. Er meinte dazu als Laie kein Recht zu haben. Ja, wenn er Theologie studiert hätte! Wie hätte er auch als kirchlich erzogener Mensch anders denken können!

Diese Bedenken hatte der Graf von Rogau aus, wo er zum Weihnachtsfest weilte, schriftlich dem lieben Schlümbach geäußert. Schlümbach widerlegte folgendermaßen seine Bedenken:

...Nun zum Schwerpunkt Ihrer lieben Zeilen, die Berechtigung der Laienarbeit betreffend: Bibelstellen? Da ließen sich viele anführen. Joh. 17,20 gibt einen Schlüssel zum hohen Christengedanken. Ein Volk, ein hohepriesterliches Volk! - Aber nun erste Laienarbeit: Siehe Apg. 1,1-6, Witwenpflege 8,1: Zerstreuten sich alle! Vers 4 taten es auch alle! Apg. 13,1: Simon der Schwarze, auch ein Prediger und Lehrer, d.h. ein Laie, der Gottes Wort auslegt. Aus den Aufgezählten werden nur zwei wirklich in den Predigerstand eingesetzt, Barnabas und Paulus. Apg. 15,39.40. Wer waren Markus, Silas? Laien, die dem Apostel helfen sollten. Röm. 16! Welch ein Blick in die Tätigkeit der Laien in Rom, wo doch noch keine richtige apostolische Gemeinde bestand! Apg. 18, 24-28: Apollos, und dann Vers 26 Aquila: ,Legten ihm den Weg Gottes noch fleißiger aus.' Laienarbeit.

Es gibt unendlich viele Beweise in der Heiligen Schrift, daß Gott will, daß in seinem Reiche allerlei Arbeit getrieben werde. Was Deutschland am meisten not tut, ist Laientätigkeit. Alle Länder, selbst Frankreich, sind darin weiter. Hier, wo die meisten tüchtigen Kräfte zu finden sind, schläft alles, und deshalb gehen Hunderttausende zugrunde. O welch ein Elend! Da schiebt immer einer die Last auf den andern, statt alles zu vergessen und Christus zu lieben. Es ist tatsächlich wahr: das deutsche Volk geht unter an christlicher Tätigkeit. Manche Theologen lehren oft, was nichts taugt, die Bibel zersetzen sie und lassen nur gelten, was in ihren Kram paßt. Nein, es muß anders kommen. Die gläubigen Männer müssen an systematische christliche Tätigkeit gesetzt werden, dann kommt neues Leben, und Kaiser und Reich sind gesichert, und das Reich Gottes faßt wieder Wurzel in den Herzen.

Nun Gott befohlen, lieber Graf, stehen Sie fest für den Herrn! Ihrer harrt viel Arbeit, und Gott wird es unter Ihren Händen segnen. Nur mutig! Motto für Sie Jos. 1, 7-9: Sei nur getrost und sehr freudig ...! Es beten viele Seelen für Sie, daß Sie Mut fassen möchten und arbeiten. Ihr F. von Schlümbach

Dieser Brief überwand die letzten Bedenken, und Schlümbach konnte dem Grafen antworten:

Möge der Herr Sie reichlich segnen und auch die lieben Ihrigen Ihren Entschluß festigen und Sie zum großen Segen setzen für Tausende und aber Tausende! Hier finden Sie warme und willige Herzen, die Ihnen treu zur Seite stehen werden und Gott loben und danken für das willige Hingeben an ihn. Mir selbst haben Sie eine große Weihnachtsfreude damit bereitet.

Als nach dieser gesegneten dreimonatigen Evangelisationsarbeit Schlümbach in andere Stadtgegenden Berlins berufen wurde, beschloß das kleine Komitee, zunächst nur aus Pastor von Schlümbach, Pastor Diestelkamp und Graf Pückler bestehend, das Werk Gottes getrosten Mutes in die Hand zu nehmen.

Noch nach mehr als 20 Jahren schreibt Graf Pückler:

Mag auch der Reiz, in einer so schönen Arbeit zu stehen, mitbestimmend gewirkt haben, schließlich hat doch wohl das kleine Fünklein Glaube, das vorhanden war, unserm Gott die Möglichkeit gegeben, uns durch die mancherlei großen und schweren Nöte des Werkes hindurchzubringen. Er schaffte gleich zu Anfang Rat, indem sich sofort liebe Freunde fanden, die das Werk tragen halfen, vor allem - Ende Januar 1883 - der Graf Andreas Bernstorff.

Das Komitee suchte durch Ankauf eines Hauses der neuen christlichen Erweckungsbewegung einen Mittelpunkt zu geben und richtete - ich lasse jetzt wieder den Grafen selbst sprechen - zu diesem Zwecke sein Augenmerk auf ein geräumiges, am Weddingplatze, gegenüber der damals im Bau begriffenen Dankeskirche, gelegenes Gebäude, den sogenannten "Fürsten Blücher". "Das Haus diente bis dahin freilich anderen Zwecken. Während sich in seinen vorderen Räumen ein Branntweinausschank befand, wurden die beiden großen Säle zu Tanz-vergnügungen benutzt, die durch ihre Zuchtlosigkeit der ganzen Gegend zum schweren Ärgernis gereichten. Vor nicht langer Zeit war das Blut eines Ermordeten auf den Dielen des Hauses geflossen, dem sein Nebenbuhler in der Hitze der Leidenschaft das Messer in die Brust gestoßen hatte, wer aber zählt die Seelenmorde, die an der armen verführten Jugend in diesem Hause verübt worden sind? Wie viele Söhne und Töchter unseres Volkes mögen, durch Branntwein und wüsten Sinnenrausch betört, in diesen Räumen an Leib und Seele verderbt worden sein zur Hölle?!

Zwischen Weihnachten und Neujahr wurde der Kauf des Hauses abgeschlossen, am Neujahrstage 1883 zum letztenmal darin getanzt, am 8. Januar 1883 erscholl darin bereits, in beiden Sälen gleichzeitig, vor über 1000 Zuhörern die Predigt des Evangeliums. Und seitdem ist das teure Wort Gottes, dem Herrn sei Dank, unter uns geblieben.

Und wenn die Toten die Stimme des Sinnes Gottes hören werden (Joh. 5,25), dann werden auch solche freudig ihre Gräber verlassen, die an der früheren Stätte der Sünde und des Todes das Leben gefunden haben, das ewiglich währt.

Ich werde niemals den Augenblick vergessen, an dem ich den "Fürsten Blücher" zum erstenmal betrat. An den bläulich gefärbten Wänden hingen geschmacklose, vergilbte Bilder, die Dielen waren löcherig, die Holzstiegen ausgetreten, und überall der starrende Schmutz. Doch konnte man auf den ersten Blick erkennen, wie praktisch das Haus für unsere Zwecke war. Es bildet ein schmales Rechteck von bedeutender Tiefe. Zunächst dem an der kurzen Seite befindlichen Eingang lagen in den beiden Stockwerken des Hauses eine Reihe kleinerer Zimmer, hinter denen sich zwei große Säle für je 500 Personen ausdehnten. Die unteren kleineren Zimmer wurden zu einer Arbeiter-Restauration eingerichtet, die darüber liegenden Zimmer den Jünglingen zum Aufenthalt angewiesen und die beiden großen Säle ohne alle Veränderung zu religiösen Versammlungen benutzt.

Von dem Podium, auf dem das Orchester zum Tanz aufgespielt hatte, wurde nun das Evangelium verkündigt, und durch Gottes wunderbare Fügung mußte der Musikus, der früher Leiter des Orchesters gewesen, einer der ersten sein, den die Umwandlung des Ortes seiner bisherigen Wirksamkeit selbst zur inneren Umkehr brachte.

Überhaupt stellten die früheren Besucher des "Fürsten Blücher" in der ersten Zeit, durch die Neuheit der Sache angelockt, ein nicht unbedeutendes Kontingent zu unseren Versammlungen. Das Wort Gottes, das sie nicht mehr aufsuchten, war nun zu ihnen gekommen. Die verschieden gerichteten Leute gingen damals scheinbar Hand in Hand denselben Pfad, und wenn sich auch viele bald wieder der alten Finsternis zuwandten, so waren sie doch wenigstens eine Zeitlang bei dem Lichte gewesen, das damals so helle schien in unserm Hause.

Als es aber nach und nach immer ausschließlicher den Charakter eines christlichen Hauses bekam, als Zucht geübt und die regelmäßigen Besucher in eine straffe Organisation zusammengeschlossen wurden, vollzog sich die Scheidung der Geister rasch und entschieden.

Auch die alte Benennung "Zum Fürsten Blücher" mußte nun der Aufschrift "Christliches Vereinshaus" weichen, welche über die Tür gesetzt wurde. Als der Maler gerade während der Mittagszeit damit beschäftigt war, die neue Aufschrift zu vollenden, sammelte sich ein Trupp Arbeiter vor dem Hause, der mit sichtlichem Erstaunen die neue Benennung las. Ihre anfangs feindseligen Mienen nahmen je länger je mehr den Ausdruck einer gewissen achtungsvollen Scheu an, als ahnten sie, daß sie gegen dieses Haus nichts mehr vermöchten, weil es dem übergeben, der stärker ist als sie selbst und auch stärker als die finstere Macht, die früher hier gewaltet. Und Gott sei Dank alle menschlichen und teuflischen Ränke, die gegen dieses Haus und seinen Frieden geschmiedet wurden, sind bis jetzt zerstoben wie Spinngewebe. Trotz unserer Gebrechlichkeit, Ohnmacht und Sünde hat der Herr es nicht verschmäht, sich auch an diesem Hause als der König zu erweisen, dem wahrlich alle Feind' auf Erden viel zu wenig zum Widerstande sein.

"Mein ist beides, Silber und Gold, spricht der Herr Zebaoth" (Hag. 2,9) und: "Alles, was ihr bittet im Gebet, so ihr glaubt, so werdet ihr es empfangen", hat der Sohn Gottes seine Jünger gelehrt. Diese Gottesworte enthalten das größte Summenversprechen, das jemals geleistet worden ist. So verächtlich auch die Welt davon denkt, so haben doch die Knechte Gottes des Allerhöchsten mitten in ihren Arbeiten zum Ausbau des Reiches Gottes allein von diesem Versprechen gelebt und es durch den Glauben in Erfüllung gebracht. Die meisten Missionsinstitute sind ohne zureichende Gelder gegründet worden, und so ist es als keine besondere Ausnahme zu betrachten, daß auch unser Haus nur mit dem Grundkapital gekauft ist, auf das obige Gottesworte die Anweisung erteilen. Das bestimmte Gefühl: "Gott will es" und die Notwendigkeit raschen Handelns waren die Triebfeder zu dem Kauf. Der Kaufpreis betrug RM 113 500,-. Er wurde beglichen durch die Übernahme der auf dem Hause ruhenden Hypothekenschulden und durch Kapitalien, die Freunde des Reiches Gottes vorschossen. Da zur Renovierung des Hauses auch noch mehrere tausend Mark erforderlich waren und dazu das sämtliche vorgeschossene Geld auf das Haus eingetragen worden ist, so beträgt die Summe der auf dem Hause lastenden Schulden 119 500 RM.

Zu dem Hause gehörte noch ein unbebautes Grundstück, das auszunutzen war. Der erste Plan, Läden auszubauen, wurde aus naheliegenden Gründen bald fallen gelassen und statt dessen eine Herberge zur Heimat für wandernde Handwerksgesellen darauf errichtet.

Wegen der Kosten richteten wir uns durch Aufruf an die evangelische Christenheit, und bald konnten wir mit innigem Dank gegen Gott reichliche Gaben in Empfang nehmen. S. Majestät der Kaiser Wilhelm 1. übersandte huldvollst eine Gabe von 2000 Mark, Ihre Majestät die Kaiserin 500 Mark. So kam nach und nach die Summe von 38 000 Mark zusammen.

Ein Frühlingstau für unsere Gemüter war der Brief eines armen Dienstmädchens, mit dem sie drei Mark übersandte, und der wörtlich folgendermaßen lautete:

Da ich viele Jahre neben dem ,Fürsten Blücher' in der Fennstraße eine christliche Freundin hatte, die ich häufig des Sonntags besuchte, auch eine Zeitlang selbst dort gewohnt habe, wo doch am lieben Sonntagnachmittag die immerwährende Tanzmusik recht störend und der Gedanke an die Entheiligung des Sonntags sehr betrübend war, so habe auch ich mit meiner Wenigkeit die Umgestaltung dieses Hauses (neben dem lieben Gotteshause wie erwünscht) mit großer Freude begrüßt und deshalb mit ebensolcher Freude und dem herzlichen Wunsche und Seufzer zum Heiland, daß Er das Scherflein segnen wolle, die kleine Gabe geschickt. Ich wünsche sehr, daß wirklich tausend Mädchen, die sich ihr Brot noch ehrlich verdienen können, auf denselben Gedanken kommen möchten, aber ich kenne nun gerade die Gegend und auch manche Familie, der es recht not täte, daß ihr mit Gottes Wort nahe getreten würde, wohnen doch in einem Hause nahe an 50 Familien im Vorder- und Hofgebäude mit sehr vielen Kindern, die mit ganz geringer Ausnahme wenig oder nichts vom lieben Gottesworte wissen. Ein Arbeiter, ganz in der Nähe der Kirche wohnend, der aber nicht hineingeht, sagt: ,Die Gegend ist nun einmal verwildert, da ist nichts zu ändern.' Aber der Glaube und die Liebe sprechen: ,Der Gott, der da will, daß allen Menschen geholfen werde, der wird's ändern zu seiner Zeit'!

Man wird beim Lesen dieses Briefes unwillkürlich an das Wort des Herrn erinnert: Ich preise dich, Vater und Herr des Himmels und der Erde, daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es geoffenbart den Unmündigen. Denn nur wenig Weise und Kluge nach dem Fleisch haben ein so richtiges Verständnis für die geistliche Not der städtischen Arbeiterbevölkerung wie dieses einfache Dienstmädchen.

Ein großer Teil unserer Gebildeten macht die Augen fest zu und will grundsätzlich nicht sehen, was doch hell am Tage liegt, ein anderer Teil hält den jammervollen Zu¬stand der Arbeiterbevölkerung für eine unabänderliche Folge der modernen Zivilisation und denkt in teilnahmsloser Gleichgültigkeit gleich jenem Arbeiter: Die Gegend ist nun einmal verwildert, da ist nichts zu ändern. Aber die kleine Schar derer, denen Gott Herz und Sinn erleuchtet hat, will und kann es nicht glauben, daß eine so unabsehbare Menschenmasse mitten in der Christenheit dem geistlichen Tode rettungslos preisgegeben sein soll und spricht darum mit jenem einfachen Mädchen: Der Gott, der da will, daß allen Menschen geholfen werde, der wird es ändern zu seiner Zeit.

Allerdings ist die Gegend verwildert genug, und zwar nicht nur die Arbeitervorstadt am Wedding, sondern die ganze großstädtische Arbeiterbevölkerung überhaupt, verwildert nicht sowohl durch ihre als vielmehr durch fremde Schuld.

Nun durfte durch Gottes großes Wirken an Menschen und durch Menschen hier eine Oase entstehen und in dieser Oase ein Wasserbrunnen für dürstende und verschmachtende Menschen erbohrt werden, der lebendiges Wasser gab und bis zum heutigen Tage noch immer gibt.

Übersicht über die Geschichte der Christlichen Gemeinschaften St. Michael
Autor: Max Diedrich (1958)

Kapitel 1 - Die religiöse Lage in Berlin um 1880
Kapitel 2 - Eduard Graf von Pückler
Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft
Kapitel 4 - Gemeinschaft - Gemeinschaftsbewegung - Kirche
Kapitel 5 - Die St.-Michaels-Gemeinschaft in ihrem inneren Aufbau
Kapitel 6 - Das St.-Michaels-Werk im äußeren Wachstum
Kapitel 7 - Graf Pückler in seiner Bedeutung für das Reich Gottes
Kapitel 8 - Die Gemeinschaften und Sonderarbeiten
Kapitel 9 - Die religiöse Lage in Berlin um 1955

Überarbeitung von Hellmut Hentschel (2010)

Kapitel 1 - Die religiöse Lage in Berlin um 1880 (überarbeitet 2010)
Kapitel 2 - Eduard Graf von Pückler (überarbeitet 2010)
Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft (überarbeitet 2010)

Geschichte der Christlichen Gemeinschaften St. Michael der Dekade 1870 / Dekade 1880 / Dekade 1890 / Dekade 1900 / Dekade 1910 / Dekade 1920 / Dekade 1930 / Dekade 1940 / Dekade 1950 / Dekade 1960 / Dekade 1970 / Dekade 1980 / Dekade 1990 / Dekade 2000 / Dekade 2010
Jahres-Chroniken ab 1870 (in Bearbeitung)